Dieses Zitat von J.W.v.Goethe zeigt, welch hohen Wert für die Entwicklung der Kinder Goethe schon damals dem Vorlesen beigemessen hat. Kinder brauchen Menschen, die sich Zeit für Sie nehmen und sie in die Welt der Buchstaben, Wörter und Geschichten entführen und ihnen damit das Tor zur Welt öffnen.
Im Jahre 2008 wurde zum Thema Vorlesen eine Studie durchgeführt von der Stiftung Lesen, der Deutschen Bahn und der ZEIT. Darin geben 37 % der befragten Kinder an, dass ihnen nie vorgelesen wird und 33% der Kinder wünschen sich, vorgelesen zu bekommen.
Das Fazit aus einer ähnlichen Studie von 2011 lautet: Eltern, die vorlesen, leisten einen zentralen Beitrag zu einer ganzheitlichen Erziehung ihrer Kinder. Sie fördern kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen. Damit tragen sie dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich zu vielseitig interessierten, aktiven und offenen Menschen entwickeln. So oder so ähnlich könnte man auch die Basis für späteren Erfolg beschreiben.
Es ist erwiesen, dass Vorlesen schon im Kleinkindalter aus vielerlei Gründen wichtig ist. Durch Vorlesen werden im Gehirn neuronale Strukturen für Lesekompetenz geformt, sinnerfassendes Lesen wird vorbereitet und gefördert.
Vorlesen fördert auch die Sprach- und Ausdrucksfähigkeit.
Um später die angebotenen Bildungs- und Berufschancen wahrzunehmen, ist eine zentrale Voraussetzung, dass früh genug Lesefreude und Lesekompetenz gefördert wird und sich entwickeln kann. Vorlese-Rituale stärken die Sozialkompetenz, sie schaffen Geborgenheit und Nähe.
Wenn Eltern ihrem Kind vorlesen, nimmt dieses unterbewusst wahr: Vater/Mutter ist für mich da, nimmt sich Zeit für mich und signalisiert damit: Ich bin ihm/ihr wichtig.
Vorlesen regt die Phantasie an. Die Kinder entwickeln in ihrem „Kopf“ eigene Bilder vom Gehörten. In ihrer Vorstellung werden die Figuren und Geschichten lebendig. Je phantasievoller die Geschichten, desto mehr wird die eigene Vorstellungskraft gefordert, die schöpferischen Kräfte geweckt und die Kreativität der Kinder wird gefördert.
Vorlesen spricht die Gefühle der Kinder an. Durch das Hineinschlüpfen in die verschiedenen Rollen der Vorlesegeschichte und das Nachvollziehen der Handlung werden die unterschiedlichsten Gefühle, die im Text angesprochen werden, vom Kind miterlebt. Auf diese Weise werden eigene Gefühle bewusst gemacht und das Gefühlsspektrum erweitert.
Da trotz der Identifikation mit den handelnden Personen in Vorlesegeschichten im Kind eine gewisse Distanz erhalten bleibt und die dargestellten Gefühle auch intellektuell erfasst werden können, führt dies zu einer differenzierten und sensibleren Wahrnehmung der eigenen und der Gefühle anderer. Diese Prozesse unterstützen die emotionale Entwicklung der Kinder.
Wer Kindern schon einmal vorgelesen hat, hat auch erlebt, wie konzentriert, ja manchmal sogar wie gebannt die Kinder zuhören, selbst Kinder, die normalerweise nicht stillsitzen können. Wenn´s dann spannend wird, möchten sich die Kinder anlehnen, kuscheln sich aneinander. Sie erleben Schutz und Geborgenheit durch den VorleserIn, sowie Verbundenheit mit allen Anwesenden. Es entwickelt sich eine Gemeinschaft in der Vorleserunde, es entsteht Nähe und Verbundenheit.
Die zuhörenden Kinder „durchleben“ die Gefühle und Erfahrungen gemeinschaftlich, tauschen sich über das Erlebte aus, sprechen manchmal Tage später noch davon. Das zeigt, wie prägend das Gehörte für die Kinder sein kann. Geschichten und Märchen sind dadurch in besonderem Maße geeignet, Werte zu vermitteln, wie z.B. Mitgefühl, Für-einander-da-sein, Miteinander, Liebe und Gewaltlosigkeit, Frieden, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Freundschaft, Durchhaltevermögen, Tapferkeit, Mut, Besonnenheit, Fairness, Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit, Bescheidenheit, usw. Alles Werte, wie sie in einer friedliebenden Gesellschaft von Nutzen sind.
Diese Werte werden vertreten von den Protagonisten des Guten.
Die Kinder identifizieren sich mit den in Fantasiegeschichten oder Märchen vorkommenden Gestalten und übernehmen die von ihnen gelebten Werte. Sie lernen, wie es sich anfühlt, ein sinnerfülltes Ziel anzustreben, sich dafür einzusetzen, sich nicht unterkriegen zu lassen, mutig zu sein, durchzuhalten, die Zweifel und Ängste zu besiegen und letztlich das Ziel, das eigentlich unerreichbar schien, doch noch zu erreichen.
Das gute Gefühl, das sie in der Identifikation erleben, macht es für sie erstrebenswert, dieses erhebende Gefühl in ähnlichen Situationen im realen Leben wieder zu erleben.
Die Verlässlichkeit der Werte ihrer „Helden“ gibt ihnen Struktur und Orientierung und damit Sicherheit. Diese „Helden“ können Kinder ihres Alters oder älter sein, die in den Geschichten vorleben, dass Fairness, Gerechtigkeit, Besonnenheit, und all die anderen Werte, im Alltag dazu verhelfen, dass sie mit sich selbst zufrieden sind.
Die Regeln die sich aus den Geschichten ergeben, weil sie zu einem gefühlt guten Ergebnis führen, übertragen Kinder automatisch auf ihr Alltagsleben und entwickeln Vertrauen in sich und ihre Umwelt.
Man braucht kein Fachwissen um sich vorzustellen, welch fundamentale Bedeutung all dies auch für die emotionale Entwicklung und das Selbstwertgefühl der Kinder hat.
Regelmäßiges Vorlesen oder Vorlesen von Fortsetzungsgeschichten schafft Neugier darauf, wie die Geschichte weitergeht und fördert damit auch Neugier auf das Leben im weiteren Sinne mit all seinen verschiedenen Fassetten und Unvorhersehbarem.
So wie auch Unvorhergesehenes in den Geschichten für die Protagonisten des Guten idR gut ausgeht, so können die Kinder lernen, Vertrauen zu entwickeln, dass das Leben, trotz allen Schwierigkeiten und Unvorhersehbarem, auch für sie Gutes bereit hält. Sie lernen auch, welche Eigenschaften und welches Verhalten und Handeln ihrer „Helden“ letztlich zu einem positiven Ergebnis geführt haben.
Wenn in der Geschichte ein Mensch oder ein Lieblingstier stirbt, können die Kinder lernen, mit Verlust umzugehen. Da kommt es auf die Qualität der Nähe und Geborgenheit an, die das Kind vom Vorlesenden bekommt, bzw. können sich verstärkt entwickeln, wenn das Kind Mitgefühl, Trost und ein tragendes Miteinander in der Trauer erfährt und dadurch lernt seine Trauer auszudrücken.
Die oben erwähnte Studie kommt zu dem Schluss: Vorlesen ist kein „nice to have“, sondern zentraler Impuls für Kompetenzentwicklung in ganz unterschiedlichen Bereichen. Vorlesen ist also ein besonders nachhaltiges Investment in die Entwicklung von Kindern.
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Über Alois Kessel
Alois Kessel ist seit mehr als 30 Jahren als Heilpraktiker in München tätig mit therapeutischem Schwerpunkt auf Psychotherapie (HpG), Coaching, Lebens- und Krisenberatung, Paar- und Familienberatung, Klassische Homöopathie. Im Internet ist er unter www.aloiskessel.com erreichbar. Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite des Autors.