Amira
»Ich hoffe, Ihr hattet heute einen schönen Tag. Dann lasst uns diesen für heute beschließen.«
Macht es Euch so richtig gemütlich, denn jetzt erfahren wir mehr, über die Adlerdame Amira …
Nicht jeder kann von sich behaupten, mit einem Adler befreundet zu sein, aber für Herrn Öseblöm war das ganz normal. Amira schien die Zärtlichkeiten zu genießen, mit geschlossenen Augen drehte sie ihren Kopf nach allen Seiten und deutete dabei mit einem leichten Stupsen auf die Stellen, an denen sie ganz besonders gerne gekrault werden wollte. Sie hatte offenbar genauso viel Vertrauen zu Öseblöm, wie unser Wanderer zu ihr.
Die fünf Burschen hielten immer noch die Luft an. Sprachlos starrten sie auf das Geschehen. Da saß auf dem Verandazaun ein unglaublich großer Adler, der sich mit seinen mächtigen Klauen am Geländer festhielt, den Kopf nach vorne gebeugt, seine Augen geschlossen und dabei still die Krauleinheiten ihres Freundes genoss.
»Was führt Dich zu mir, Amira?«, unterbrach Öseblöm die Stille.
»Nicht aufhören«, antwortete diese.
»Sie kann ja sprechen«, platzte Mallewutz heraus, der Öseblöms Bogen schnell wieder ins Haus zurückgebracht hatte, als klar wurde, dass Amira nichts Böses im Schilde führte.
Jetzt schaute Amira auf und betrachtete mit ihren funkelnden Augen den kleinen Mallewutz: »Wer ist das denn?«, wollte sie wissen, und es schien als läge eine gewisse Schärfe in ihrer Stimme.
»Das sind meine Freunde«, erklärte Öseblöm.
»Und wie heißt ihr?«, fragte Amira, dabei schaute sie schon etwas freundlicher in die Runde. Kaum war jedoch die Frage gestellt, begann wieder das lustige Schauspiel …
»Kalle, Malle, Dralle, Mallewutz und Balthasar«, riefen die Fünf ihre Namen, dabei sprang, wie immer, einer nach dem anderen auf, sodass sie hernach wie Orgelpfeifen nebeneinander standen. Öseblöm musste wieder lachen und selbst die mächtige Adlerdame schien mit ihrem Schnabel etwas amüsiert zu lächeln.
»Alle Tiere können sprechen«, erklärte Öseblöm, »Du musst nur zuhören können.«
»Na, dann kennst Du aber Hektor noch nicht«, mischte sich nun Malle ein. »Der Hund unseres Nachbarn kläfft immer nur, wenn wir vorbeikommen. Ich habe den noch nie auch nur ein Wort reden hören!«
»Schöne Freunde hast Du da«, wandte sich Amira vorwurfsvoll an Öseblöm, »die können noch nicht einmal mit Tieren reden!« – »Aber Du sprichst doch mit ihnen«, entgegnete Öseblöm. »Und Du erinnerst Dich – Deine Freunde, sind auch meine Freunde. Das gilt nicht nur für mich, oder?«
Amira schaute die fünf Burschen an und schien einen Augenblick nachzudenken. Dann gab sie sich einen Ruck, streckte ihre Flügel kurz aus und plusterte sich entspannt auf. »Na gut«, antwortete sie, »so soll es sein. Deine Freunde, sind auch meine Freunde!«
Balthasar war der Erste, der sich näher herantraute. »Darf ich Dich dann auch kraulen?«, fragte er. Amira schaute ihn an und hielt ihm ihren Kopf hin. Beide waren sehr vorsichtig. Balthasar berührte die Adlerdame ganz zärtlich in ihrem Nacken und begann sie zu kraulen. Nach kurzer Zeit schloss Amira wieder ihre Augen und drehte genießerisch ihren Kopf nach allen Seiten.
»Was führt Dich zu mir?«, wiederholte nun Öseblöm seine anfangs gestellte Frage.
»Ich wollte Dich um Hilfe bitten, mein Freund«, erklärte Amira, dabei hielt sie ihre Augen geschlossen. »Nicht aufhören!«
Balthasar, der seine Hand vorsichtig wieder zurückziehen wollte, schaute sich etwas unsicher nach seinen Freunden um. Dann kraulte er weiter, während Amira erzählte.
»Mein Sohn Pepe ist nun seit einer Woche verschwunden. Er hätte schon längst zurück sein sollen. Und jetzt beginne ich mir langsam Sorgen zu machen. Ich wollte Dich bitten, mir zu helfen. Ich glaube, er ist in Gefahr.«
Als Balthasar das Wort »Gefahr« vernahm, hörte er unwillkürlich auf zu kraulen. Amira schaute auf und in ihrem Blick lag etwas Flehendes.
Kalle, Malle, Dralle und Mallewutz saßen mit offenen Mündern an ihrem großen Tisch. Das Frühstück hatten sie völlig vergessen. Öseblöm schaute kurz hoch in den Himmel, als suche er dort nach einer Antwort. Dann nickte er zustimmend.
»Aber zuerst wird gefrühstückt«, erklärte er. »Danach komme ich mit und werde Dir helfen!«
»Dann bleibst Du ja doch nicht bei uns«, stellte Balthasar mit trauriger Stimme fest. Öseblöm nahm seinen Freund fest in den Arm: »Ich bin heute Abend wieder zurück, und Du musst doch jetzt gleich sowieso zur Schule, nicht wahr?«
Wahrscheinlich könnt Ihr Euch gut vorstellen, dass dies ein aufregendes Frühstück war. Jeder rätselte, wo denn der junge Adler Pepe verblieben sein könnte. Amira schüttelte immer nur ihren Kopf, über die seltsamen Ideen der Burschen. »Zum Mond ist er ganz bestimmt nicht geflogen«, dachte sie nur. »Eher sitzt er auf irgendeinem Baum und schläft.« Na ja, und das dürft Ihr jetzt auch erst einmal tun, bis es morgen weiter geht.
Denn für heute heißt es »Gute Nacht und schlaft recht schön.«