Don Carlos
»Ich hoffe Ihr seid schon bereit für die nächste Geschichte!«
Dann macht es Euch wieder gemütlich in Eurem Bett, schließt die Augen und hört gut zu, denn jetzt sind wir wieder in dem fast friedlichen Wald und erfahren, wie es weiter geht …
Das kleine Schäfchen Marie stand dicht an einen großen Baum gelehnt und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie sich Öseblöm und Amira diesem mächtigen Adler näherten. Der wimmerte und jammerte herzzerreißend vor sich hin. Ein Pfeil stak in seinem Popo, was offensichtlich der Grund für seine Schmerzen war.
Als Amira ihn mit Pepe verwechselte und ansprach, schaute er erschrocken auf. Sofort breitete dieser gewaltige Greifvogel seine riesigen Flügel aus, seine Augen blitzten gefährlich und wurden zu einem schmalen Schlitz. Obwohl er verletzt war, hatte er nichts von seiner Gefährlichkeit verloren.
»Halt, halt, mein Freund!«, rief unser Öseblöm und versuchte den Adler zu beruhigen. Herr Öseblöm wusste, dass es nicht ungefährlich war, sich einfach so einem verletzten Adler zu nähern. Darum setzte er wieder sein freundlichstes Lächeln auf, verneigte sich tief und stellte sich mit einer schwungvollen Geste vor:
»Mein Name ist Öseblöm, von Öseblömhausen, Öseblöm. Wir sind gekommen, um Dir zu helfen.«
»Wir wollen ihm helfen?«, meckerte Amira, die ein paar Schritte hinter Öseblöm zurückgeblieben war. »Wieso wollen wir ihm helfen? Ich dachte, wir suchen Pepe? Das ist aber nicht Pepe! Dieser Adler ist viel zu alt, und zu dick, und außerdem hat er einen Pfeil in seinem Popo!« Amira geriet richtig in Fahrt, als sie erkannte, dass es sich nicht um ihren Sohn handelte.
»Ich weiß,« sagte Öseblöm, »das ist mein Pfeil.«
»Das ist Dein Pfeil?!«, entfuhr es Amira und dem Adler gleichzeitig, wobei Amira überrascht war, hingegen der Adler jetzt echt zornig wurde.
»Natürlich ist das mein Pfeil,« entgegnete Öseblöm ganz ungerührt, »und ich möchte ihn auf der Stelle zurück haben.«
Der Adler schnaubte bei diesen Worten. Auf der einen Seite wollte er diesen seltsam aussehenden Wanderer auf der Stelle packen und töten, auf der anderen Seite verblüfften ihn die guten Manieren dieses Fremden. Und die Aussicht, endlich den Pfeil wieder loszuwerden tat ihr übriges.
So erstarrte der Adler in der Furcht einflößenden Haltung mit den weit ausgebreiteten Flügeln, allerdings wechselten nun seine Augen von einem schmalen Schlitz, zu einem freundlichen Blick, wieder zu einem schmalen Schlitz, dann erneut zu einem freundlichen Blick.
»Also, mein Name ist Öseblöm, wie Du jetzt weißt. Dürfen wir nun auch Deinen Namen erfahren, mein Freund?« Unser Wanderer blieb ausgesprochen freundlich, ließ den Adler aber keine Sekunde aus den Augen.
»Du nennst mich Deinen Freund?«, fragte der Adler erstaunt. »Wer sagt denn, dass wir Freunde sind?« In seiner Stimme lag noch etwas knurrendes, aber in seinem Herzen kam er sich langsam etwas albern vor, wie er so da stand, mit ausgebreiteten Flügeln, weit aufgerissenem Schnabel und Augen, die ständig zwischen gefährlichem Schlitz und freundlichem Blick hin und her wechselten.
»Nun,« erklärte Öseblöm mit ganz warmer Stimme, »ich habe Dir nur in Deinen Popo geschossen, nicht wahr? Wenn ich gewollt hätte, so hätte ich auch Dein Herz treffen können! Und wenn Du ehrlich bist, so weißt Du ganz genau, warum das passiert ist. Ich habe lediglich meine Freunde beschützt.«
Der Adler, gerade noch Furcht einflößend und mächtig, zog seine Flügel ein, klappte den Schnabel zusammen und wirkte plötzlich wie ein Häufchen Elend, als er sich an den Misslungen Angriff erinnerte.
»Das war eine Verwechslung. Tut mir echt leid«, flüsterte er; dabei wirkte er verlegen, wie ein kleiner Junge, dem ein Malheur passiert ist.
»Du meinst wirklich, wir können noch Freunde werden?« Der Adler hatte Zweifel.
»Aber natürlich«, erwiderte Öseblöm, dem ein Stein vom Herzen gefallen war. »Meinen Freunden ist ja nichts geschehen und Dich werde ich jetzt von dem Pfeil befreien.«
Mit diesen Worten näherte er sich dem Adler bis auf wenige Zentimeter, griff ganz behutsam nach dem Pfeil, streichelte beruhigend die Flügel des Adlers und zog den Pfeil vorsichtig aus dem Popo heraus. Die Wunde blutete ein wenig. Deshalb griff Öseblöm nach einem großen Blatt, das ein Baum hatte vorsorglich fallen lassen. Der ganze Wald beobachtete unseren Wanderer, wie er aus dem Blatt einen kleinen Verband machte und damit die Wunde versorgte.
Der Adler spürte die Erleichterung, als der Pfeil endlich aus seinem Popo heraus war und dieser unerträgliche Schmerz augenblicklich nachlies.
»Magst Du uns jetzt Deinen Namen nennen?«, fragte Öseblöm mit einem erleichterten Lächeln.
»Carlos«, antwortete der Adler mit leiser Stimme.
»Doch nicht etwa Don Carlos?«, mischte sich jetzt Amira wieder ein, die ebenfalls das Geschehen ganz gebannt verfolgt hatte. »Don Carlos vom hohen Berg?«
»Na – vom tiefen Berg macht doch wenig Sinn, oder?«, entgegnete der Adler, der sich schnell wieder zu erholen schien. Öseblöm lachte laut und auch das Schäfchen Marie, das immer noch am Rand der Lichtung stand, konnte ein Lächeln nicht verkneifen.
Ein „tiefer“ Berg würde wirklich komisch klingen, oder? Nun ja, ob hoch, ob tief, ob groß, ob klein, für heute soll es das gewesen sein. Ahnt Ihr es schon? Jetzt heißt es wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, denn morgen wird es weiter gehen.«