Gefährlicher Heimweg
»Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag.«
Dann können wir es uns jetzt wieder so richtig gemütlich machen. Also, deckt Euch schon einmal gut zu, spitzt Eure Ohren und hört, wie es mit unseren Freunden weiter geht …
Amira und Öseblöm gewannen rasch an Höhe. Bald schon waren sie nur noch als ein kleiner Punkt am strahlend blauen Himmel zu erkennen. Marie und Don Carlos schauten den beiden noch eine Weile nach, bevor auch sie sich auf den Weg machten.
Das kleine Schäfchen Marie hatte seine Orientierung verloren. Allein hätte sie niemals zurück zu ihrer Herde gefunden. Don Carlos aber war froh, endlich seine riesigen Flügel ausstrecken zu können. Er reckte und streckte sich erst einmal. Beide schwiegen. Der Adler vom hohen Berg war stolz, aber nicht zu stolz, um zu verstehen, dass dieses kleine Schäfchen ihn gerettet hatte.
»Danke,« sagte er zu Marie, »ohne Dich säße ich jetzt noch immer in diesem Wald fest.«
Marie lächelte ein wenig verschämt. »Ach, ich wollte doch nur helfen«, sagte sie voller Bescheidenheit. »Das war doch …«
»… eine sehr mutige Tat«, beendete Don Carlos ihren Satz. »Ich habe Dir sehr viel zu verdanken. Doch lass uns jetzt losziehen, ich denke, Deine Familie macht sich sicher auch schon große Sorgen.« Mit diesen Worten erhob auch Don Carlos sich in die Lüfte und zeigte der kleinen Marie den Weg.
Auf dem Rückweg kam Marie viel langsamer voran, als auf den Hinweg. Jetzt erst fielen ihr all die kleinen Steine, Felsen und Tümpel auf, in denen sie sich hätte verfangen oder verletzen können. Wie durch ein Wunder war ihr vor ein paar Tagen nichts passiert, als sie dem verletzten Adler folgte, um ihm zu helfen. Als Marie das erkannte, bekam sie im Nachhinein richtig Angst.
Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, nicht von Don Carlos, nein, sondern von zwei Augen, dunkel und gefährlich. Marie stapfte tapfer voran. Diese Augen jedoch, ließen sie nicht mehr los.
Währenddessen hatte Don Carlos weiter an Höhe gewonnen. Er wollte sich beeilen, aber unser Schäfchen kam nur langsam voran. So zog er immer wieder Kreise und wartete in großer Höhe. Am Horizont konnte er schon die Schafherde erkennen, ganz klein zunächst, weil sie noch sehr weit entfernt war, doch wenn Marie nur einen Schritt schneller gehen könnte, würde es nicht mehr lange dauern.
Don Carlos übersah, dass Marie sich am Boden bewegte und all die Stolpersteine umgehen musste. Unser kleines Schäfchen hingegen, spürte die lauernden Augen in ihrem Nacken. Sie beeilte sich ja schon; ja, am liebsten wäre sie gerannt, aber das traute sie sich dann doch nicht.
Wie dem auch sei, die lauernden Augen funkelten immer dunkler. Sie erfassten jeden Schritt unseres kleinen Schäfchens, folgten ihr unablässig, blieben aber immer in geschützter Deckung eines undurchdringlichen Geästs.
Marie bekam Angst. Sie wollte endlich heim zu ihrer Familie. Immer wieder schaute sie zu Don Carlos, der ihr, nach wie vor, den Weg deutete.
Plötzlich stand unsere Marie vor einem kleinen Weiher. Sie überlegte. Sollte sie nun links oder rechts herum gehen. »Hm,« dachte das Schäfchen, »wenn ich nur fliegen könnte, oder wenigstens in die Höhe hüpfen, dann wüsste ich, welcher Weg der kürzere ist.«
Während Marie noch darüber nachdachte, hatten sich die dunklen Augen bereits entschieden. Mit einem gefährlichen Leuchten traten sie aus dem Dickicht heraus. Da stand er, ein stattlicher Wolf, dessen messerscharfe Zähne in der Sonne blitzten. Auf leisen Pfoten näherte er sich unserem Schäfchen von hinten, sodass Marie ihn nicht sehen konnte.
Doch der Wolf hatte seine Rechnung ohne Don Carlos gemacht!
Wie ein gewaltiger Donnerpfeil kam der mächtige Adler herangeschossen und schlug dem Wolf seine scharfen Klauen in den Nacken. Der jaulte auf vor Schmerz und ging sofort zu Boden. Marie fuhr erschrocken herum und blieb starr vor Schreck wie angewurzelt stehen.
Don Carlos aber packte den Kopf des Wolfes und knurrte: »Solltest Du diesem Schäfchen etwas antun, dann hacke ich Dir die Augen aus. Hast Du mich verstanden?«
Der Wolf war viel zu überrascht von diesem Angriff, außerdem schmerzten ihn die Klauen dieses gewaltigen Adlers, der ihn fest im Griff hatte.
»Ist ja gut«, würgte der Wolf mit röchelnder Stimme hervor. »Du willst wohl das Schäfchen für Dich haben?«
»Du hast mich offenbar nicht verstanden?«, korrigierte Don Carlos den Wolf. »Dieses Schäfchen und seine gesamte Familie stehen ab sofort unter dem Schutz von Don Carlos, dem Adler vom hohen Berg. Und wenn Du nicht auf der Stelle verschwindest, dann wird gleich aus dem bösen Wolf ein blinder Wolf …«
Don Carlos meinte es ernst.
»Du musst mich aber loslassen,« brachte der Wolf mit kleinlauter Stimme heraus, »wie soll ich sonst verschwinden?«
Unser Adler vom hohen Berg überlegte kurz und befand, dass der Wolf damit recht hatte. Deshalb ließ er von ihm ab, behielt ihn aber im Auge. Der Wolf hingegen verstand gar nichts mehr, zog seinen Schwanz ein und verließ diese Gegend, so schnell er nur konnte.
Unserem Schäfchen Marie klopfte das Herz noch immer ganz heftig. Dabei war sie überglücklich, denn sie hatte einen richtigen Freund gefunden. Nach einer kurzen Verschnaufpause machten sich Marie und Don Carlos wieder auf den Weg. Jetzt war es nicht mehr weit.
Und für Euch liebe Kinder wird es Zeit. Denn nun heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, denn morgen wird es weiter gehen.«