Nachricht von Öseblöm
»Es ist soweit, seid Ihr bereit …?«
Dann lasst uns nicht länger warten. Unsere Burschen waren ja ganz aufgeregt und hätten sich fast richtig gestritten …
»Was hast Du nur getan?«, immer wieder rief Balthasar diese Frage. Er war sichtlich entsetzt über seinen Freund Kalle. Dabei streichelte er unentwegt den Kopf dieses riesigen Adlers, der k.o. auf der Veranda lag und sich nicht rührte.
Kalle hingegen war über sich selbst erschrocken. »Ich wollte doch nur, ich meinte, eh, er hat uns doch angegriffen …«
»Hatte, lieber Kalle,« versuchte Malle zu beschwichtigen, »hatte. Jetzt gerade hast wohl eher Du ihn angegriffen. Hast Du ihm nicht zugehört? Er wollte sich entschuldigen!«
»Ist das Dein Dank, wenn sich jemand aufrichtig entschuldigt?«, fauchte nun Mallewutz, der sich ebenfalls zum Adler herunterbeugte und seinen Kopf zärtlich kraulte.
»Aber ich wollte doch nur, ich meinte …, ach ich weiß auch nicht …«, stotterte Kalle ein wenig hilflos. Tatsächlich hatte er überhaupt nicht gedacht, gewollt oder gemeint. Es war ein Reflex. Der Adler hatte sich bei seinen Worten leicht nach vorne geneigt und Kalle erinnerte sich an den gefährlichen Angriff. Plötzlich vermischte sich alles in ihm, wie in einem Strudel. Die Erinnerung des Angriffs hatte ihn wieder voll ergriffen und so hatte er in einem Reflex, ohne weiter nachzudenken, zu seinem Stock gegriffen und … na ja, jetzt tat es ihm schon wieder leid.
Don Carlos lag noch immer regungslos da, aber durch das Halstuch von unserem Öseblöm verstand er jedes Wort. Vorsichtig blinzelte er für einen kurzen Moment mit einem Auge, um zu sehen, was los war … dann stellte er sich wieder bewusstlos … Er genoss das zärtliche Kraulen von Mallewutz und Balthasar. Am liebsten hätte er seinen Kopf etwas gedreht, doch fürchtete er, dass dann die schönen Krauleinheiten ein jähes Ende finden würden. Also hielt er seine Augen geschlossen und sagte keinen Mucks.
Balthasar liefen die ersten Tränen über die Wangen. »Was hast Du nur getan?«, rief er wieder. »Jetzt ist er tot, und dass nur, weil er sich entschuldigen wollte!«
»Das glaube ich nicht«, sagte nun Dralle. »Er atmet doch noch. Sieh nur genau hin.«
Als Don Carlos das hörte, hielt er die Luft an.
»Nein, er atmet nicht mehr!«, widersprach Balthasar.
»Doooch,« sagte Dralle, »sieh nur genau hin. Der hält ja die Luft an …!«
Dralle hatte sehr gut aufgepasst. Ihm war auch das kurze Blinzeln nicht entgangen, aber er ahnte, dass Don Carlos die Zärtlichkeiten mochte. Darum setzte er sich neben ihn und begann ebenfalls den mächtigen Greifvogel zu streicheln.
»Du kannst Deine Augen jetzt öffnen, Don Carlos vom hohen Berg«, flüsterte er dem Adler ins Ohr, dabei kraulte er ihm liebevoll den Nacken.
Don Carlos seufzte und öffnete erst ein, dann auch das andere Auge, aber er blieb noch liegen und neigte jetzt seinen Kopf hingebungsvoll den kraulenden Händen entgegen. Kalle hingegen stand etwas bedröppelt an der Tür und hielt sich lieber in sicherer Entfernung. Malle blieb in seiner Nähe, wohingegen Dralle, Mallewutz und Balthasar ganz dicht bei Don Carlos standen, knieten und saßen.
»Er lebt!«, rief Balthasar voller Freude. Und nun geschah etwas ganz Besonderes. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, dass ein Don Carlos sich nicht einfach so k.o. schlagen lässt. Für jeden anderen wäre der Adler vom hohen Berg ab jetzt ein gefährlicher Gegner. Aber die drei Burschen kümmerten sich so liebevoll und Kalle schaute so ehrlich betroffen aus, dass dieser mächtige Vogel ein völlig neues Gefühl in sich spürte: Er konnte verzeihen.
Dann richtete er sich auf, ganz langsam, dass auch keiner mehr Angst vor ihm bekam. Auf seiner Stirn prangten nun zwei große Beulen wie zwei Hörner. Für einen stillen Beobachter sah das schon irgendwie lustig aus. Unsere Burschen aber waren froh, dass außer den Beulen nichts weiter passiert war.
»Darf ich jetzt noch einmal von vorne beginnen. Mein Name ist Don Carlos, und ich bin der Adler vom hohen Berg. Unser gemeinsamer Freund Öseblöm schickt mich. Er hatte mich befreit von einem Pfeil, den er mir höchstpersönlich in meinen Allerwertesten geschossen hatte. Dies geschah nur, weil ich Euch angegriffen hatte. Dafür bitte ich nochmals um Verzeihung. Es tut mir aufrichtig leid, es war eine schreckliche Verwechslung.«
Nun trat Kalle auf den Adler zu und reichte ihm vorsichtig seine Hand. »Ich bin Kalle,« sagte er »und mir tut es auch aufrichtig leid, dass ich …«
»Schon gut«, sagte Don Carlos, lächelte und legte ganz behutsam seinen scharfen Schnabel in Kalles Hand. Dann schloss er seine Augen und gab dem Burschen das Zeichen, ihn doch auch zu kraulen. Dieser Aufforderung folgte Kalle sehr gerne.
Nach einer Weile begann Don Carlos zu erzählen, von dem Wald, vom Schäfchen Marie, von der Eule und dem zornigen Busch und davon, dass Amira und Öseblöm nun auf dem Weg zur Bärenhöhle waren. Unsere fünf Burschen lauschten mit großen Augen dem Bericht.
»Wir müssen sofort los«, rief Kalle. »Öseblöm braucht unsere Hilfe.« – »Na, ich glaube nicht, dass Du mit einer Walnuss einen Braunbären beeindrucken kannst«, sagte Don Carlos. »Aber Dein Mut ist schon beeindruckend, sehr beeindruckend.« Damit streckte er den Burschen seinen Kopf wieder zum Kraulen entgegen.
Und Ihr liebe Kinder, lasst Euch jetzt auch noch einmal richtig schön kraulen, denn für Euch heißt es jetzt wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«