Wurzelbruck
»Ich hoffe, Ihr habt gut auf Eure Schuhe aufgepasst …«
Ihr wisst ja, man sollte nicht mit ihnen diskutieren. Wenn Ihr bereit seid, so können wir beginnen und uns wieder zu unseren Freunden auf die Veranda gesellen. Schließlich war es ein bunter Abend, voller Geschichten und Abenteuer.
»In 15 Jahren eine Brücke zu bauen soll schnell sein?«, fragte Kalle. »Verzeih mir, aber da muss ich wohl lachen. Das kann ich viel schneller!«
»Und wie willst Du das anstellen, lieber Kalle«, warf nun Mallewutz ein. »Du hast ja noch niemals eine Brücke gebaut.«
Damit hatte Mallewutz ganz ohne Zweifel recht, denn schließlich hatten unsere fünf Burschen noch nie in ihrem Leben das kleine Dorf verlassen. Und hier gab es weit und breit keine Brücken. Die wären auch sinnlos gewesen. Aber Kalle gab nicht so einfach klein bei.
»Dafür nehme ich einfach mein Seil«, erklärte er mit einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme.
»Du meinst doch nicht etwa Dein Seil, mit dem Du die Sonne hinter Dir hergezogen hast?«, fragte nun Balthasar, der sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wie man damit eine Brücke bauen sollte. Das konnten die drei Adler allerdings auch nicht.
»Du hast ein Seil, mit dem Du die Sonne hinter Dir herziehst?«, fragte Amira ganz ungläubig.
»Ganz genau,« behauptete Kalle voller Überzeugung, »und damit kann ich auch eine Brücke bauen.«
»Und wie baut man mit so einem Seil eine Brücke?«, wollte nun auch Dralle wissen.
»Das ist doch einfach«, erläuterte Kalle. »Ich nehme das Seil und bilde an einem Ende eine große Schlinge. Damit fange ich die Baumkrone eines Baumes auf der gegenüberliegenden Flussseite ein. Danach muss ich nur noch kräftig daran ziehen und biege den Baum soweit nach unten, bis er als Brücke über den Fluss geneigt ist. Schließlich muss ich ihn nur noch festbinden, damit er nicht wieder zurückschnellt. Das war es auch schon. Fertig ist die Brücke. Dafür brauche ich keinen Tag.«
Die Freunde befanden, dass dies eine beeindruckende Lösung war. Nur unser Öseblöm lachte, als er nachfragte: »Und was machst Du, wenn auf der anderen Flussseite kein Baum steht?«
»Dann muss man halt einen anpflanzen«, antwortete Kalle.
»Und wie lange dauert es wohl, bis der Baum so groß ist, dass Du ihn zur Brücke verbiegen kannst?«, Öseblöm ließ nicht locker.
»Ich schätze, ungefähr 15 Jahre«, warf jetzt Malle ein und kam damit seinem Freund Kalle mit einer Antwort zuvor. Die ging auch im allgemeinen Lachen der Freunde unter. Unser Balthasar hatte sich derweil neben Öseblöm auf die Bank gesetzt.
»Du wolltest uns doch erzählen, wie Du zu diesen Wanderstiefeln gekommen bist«, forderte er den Wanderer auf, endlich zu berichten.
»Das ist wahr«, sagte Öseblöm. »Ich erinnere mich noch sehr gut daran, ganz so, als sei es erst gestern geschehen.« Und so erzählte Öseblöm den Freunden von seinem Abenteuer in Wurzelbruck …
***
Vinidi Öseblöm hatte gerade sein letztes Abenteuer überstanden und seine große Suche fortgesetzt. Seit zwei Tagen schon war er unterwegs, ohne auch nur einem Menschen begegnet zu sein. Da erreichte er das Ufer eines kleinen Flusslaufs. Er folgte dem Fluss nach Süden, bis er schließlich auf eine wundersame Brücke traf, die aus den Luftwurzeln eines ziemlich großen Baumes gewachsen war.
Die Brücke selbst wurde bewacht von einem jungen Mann, der mit einem Speer bewaffnet den Weg verstellte. Wie immer, begrüßte unser Wanderer den fremden Wächter mit seiner liebevollen Freundlichkeit. Er verbeugte sich tief und sagte: »Guten Tag, werter Herr. Mein Name ist Vinidi, Öseblöm, von Öseblömhausen, Öseblöm. Ich bin ein friedlicher Wanderer auf der Reise und würde gerne in Eurem Dorf eine kleine Rast halten.«
Der Wächter war sehr beeindruckt, aber er gab den Weg nicht frei.
»Du kannst unser Dorf nicht betreten, Fremder«, erklärte er. »Es ist viel zu gefährlich hier.«
»Aber ich bin ein friedlicher Wanderer«, entgegnete Öseblöm. »Und wie Du leicht erkennen kannst, bin ich nicht gefährlich.«
Der junge Mann ließ sich nicht so einfach überzeugen. Er musterte unseren Öseblöm von oben bis unten mit einem scharfen Blick. »Das mag schon sein«, antwortete er mit skeptischer Stimme. »Aber unser Dorf wird seit Jahren bedroht. Deshalb lassen wir keine Fremden herein.«
»Wer bedroht denn Euer schönes Dorf?«, wollte Öseblöm wissen und zeigte echtes Interesse und Anteilnahme. Der Wächter spürte das. Er ahnte, dass Vinidi Öseblöm ein ganz besonderer Fremder war. »Vielleicht kann ich Euch ja helfen?«, fügte Öseblöm rasch hinzu.
Der Wächter betrachtete Öseblöm wieder von oben bis unten und versuchte wohl abzuschätzen, ob Öseblöm eine Chance hätte. »Ich glaube kaum«, antwortete er schließlich. »Dafür bist Du zu klein.«
Nun schaute Öseblöm an sich herunter und sagte: »Ich bin seit mehr als siebzig Tagen unterwegs und habe dabei viele Abenteuer bestanden. Erlaubt mir, dass ich meiner Sammlung ein weiteres Abenteuer hinzufüge.«
»Du sammelst Abenteuer?«, fragte der Wächter ganz ungläubig. Dann griff er zu einem kleinen Horn, das er an einem Gurt über seiner Schulter trug. Der junge Mann holte ganz tief Luft und blies hinein. Offensichtlich warnte er die anderen Dorfbewohner. Ein tiefer, mächtiger Ton erschallte und war noch meilenweit zu hören. Öseblöm blieb ganz ruhig und geduldig.
Das, liebe Kinder, müsst Ihr jetzt auch sein. Denn jetzt heißt es wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«