Die große Gefahr
»Seid Ihr bereit für die nächste Geschichte?«
Dann geht es jetzt sofort weiter, denn Öseblöm erzählte ohne Unterbrechung von seinem Abenteuer in Wurzelbruck. Also, wieder gut zudecken, Augen zu und Ohren auf, denn wir stehen mit Öseblöm auf der Wurzelbrücke …
Der Wächter hatte kaum von seinem Horn abgelassen, da tauchten auch schon die ersten Dorfbewohner auf. Alle waren unterschiedlich bewaffnet, einige nur mit kräftigen Stöcken, andere aber auch mit Pfeil und Bogen, ja sogar mit scharfen Schwertern.
Unser Öseblöm hatte aber keine Angst, er wollte sich ja nur ein wenig ausruhen. Und wenn er dafür den Dorfbewohnern helfen konnte, so sollte es ihm auch recht sein. Also blickte er den vielen Leuten freundlich entgegen. Die versammelten sich alle hinter ihrem Brückenwächter.
Schweigen, auf beiden Seiten.
Öseblöm blieb geduldig und wartete.
Schließlich trat aus den Reihen der Dorfbewohner ein schon etwas älter aussehender Mann hervor. Er trug ein Hemd aus feinstem Leinen, eine Hose aus gegerbtem Leder und sein langes, weißes Haar tanzte in den kleinen Windböen, die nun ganz verspielt zwischen den Menschen umherhuschten. Das Wichtigste jedoch war: dieser Mann war unbewaffnet.
Er trat an Öseblöm heran und musterte ihn von oben bis unten. Unser Wanderer verneigte sich tief zur Begrüßung, sagte aber kein Wort. Stattdessen stellte ihn der junge Wächter vor: »Das ist Vinidi Öseblöm, von Öseblömhausen, Öseblöm. Oh Herr, dieser seltsame Wanderer sammelt Abenteuer!«
Ein Raunen ging durch die Menge, als sie dies hörten.
Der Alte hob seine linke Hand und gebot den Bewohner, still zu sein.
»Stimmt das?«, fragte er und ließ unseren Öseblöm nicht aus den Augen.
»Das ist richtig«, antwortete Öseblöm. »Ich bin schon seit siebzig Tagen unterwegs und habe dabei viele Abenteuer überstanden. Und wie ich hörte, könntet Ihr mir mit einem weiteren Abenteuer dienlich sein …?«
Der Weißhaarige verzog seinen Mund zu einem schmalen Lächeln. »So soll es sein«, sagte er, drehte sich um und begab sich ins Dorf zurück. Zum Brückenwächter gewandt befahl er noch: »Lasst ihn herein.«
Die Dorfbewohner bildeten eine schmale Gasse, durch die Öseblöm dem Alten folgen konnte. Der schaute sich nicht einmal um und ging langsam voran.
»Mag sein, dass dies Dein letztes Abenteuer wird«, sagte der Alte. »Dann wäre Deine Reise hier zu Ende. Unser Dorf wird nämlich von der großen Gefahr bedroht, von einer sehr großen Gefahr.«
Jetzt war unser Öseblöm ganz Ohr. Sie erreichten gemeinsam den zentralen Dorfplatz. Der Alte setzte sich dort unter die schattige Eiche und lud unseren Freund ein, Platz zu nehmen.
»Ich bin Kerim, der Älteste des Dorfes«, stellte sich der weißhaarige Alte mit einem freundlichen Lächeln vor. Öseblöms Neugier war geweckt.
»Was für eine große Gefahr bedroht denn Euer schönes Dorf?«, wollte unser kleiner Held nun wissen.
»Es ist ein gefährlicher Riese«, antwortete Kerim und wurde ganz ernst dabei. »Wir bringen ihm jeden Tag ein Opfer, damit er uns nichts antut. Ich selbst opfere zum Beispiel jeden Morgen meine eigene Enkeltochter, um unser Dorf zu schützen.«
»Wie viele Enkeltöchter hast Du denn?«, fragte Öseblöm verblüfft.
»Eine«, antwortete der Dorfälteste. »Lavida, sie ist das schönste Mädchen unseres Dorfes!«
Öseblöm wollte es jetzt genau wissen: »Wie geht das mit dem Opfern vor sich?«
Kerim erzählte, wie jeden Morgen die Dorfbewohner ein paar essbare Sachen zusammen trugen und Lavida diese dann zum Haus des Riesen brachte, der nicht weit vom Dorf entfernt wohnte. Lavida musste dann eine Weile warten, um auch sich selbst vom Riesen fressen zu lassen.
»Du bietest Deine Enkeltochter dem Riesen zum Fraß an?«, fragte Öseblöm und konnte kaum glauben, was er da hörte. »Und wie lange geht das schon so?« Unser Öseblöm war wirklich erschüttert.
»Das geht nun schon seit ein paar Jahren so«, erklärte der Dorfälteste. »Aber der Riese nimmt einfach mein Opfer nicht an.«
»Sei dankbar und froh, mein lieber Freund«, sagte Öseblöm und fragte gleich weiter nach: »Hat Deine Enkeltochter den Riesen überhaupt schon einmal gesehen?« Kerim schüttelte nur den Kopf.
»Aber das Essen ist jedes Mal verschwunden, oder nimmt der Riese das auch nicht an?«, Öseblöm hatte einen Verdacht, den er auch sogleich aussprach: »Hat eigentlich irgendjemand aus dem Dorf schon einmal den Riesen gesehen?«
Jetzt wurde Kerim ärgerlich: »Du glaubst wohl ich lüge, oder was? Ich selbst habe den Riesen gesehen. Sein Kopf ragt über unser Dach! Und er ist gefährlich. Alle Riesen sind gefährlich. Und das Essen? Ja, zum Glück scheint es ihm zu schmecken, sonst wäre es mit unserem Dorf schon längst vorbei!«
Öseblöm wollte den Alten nicht verärgern. Der hatte wohl wirklich Angst vor diesem Ungetüm. Nur dass mit der Enkeltochter konnte Öseblöm einfach nicht verstehen …
»Wenn Du erlaubst,« sagte unser kleiner Held, »werde ich morgen früh Deine Enkeltochter begleiten. Das wird ein feines Abenteuer, wenn ich dem Riesen beim Essen zusehe.« Kerim nickte zustimmend. Tja, liebe Kinder, und wir werden morgen unseren Öseblöm begleiten. Doch jetzt heißt es wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«