Ein einsamer Riese
»Seid Ihr auch wirklich bereit für die nächste Geschichte?«
Dann lasst uns sofort damit beginnen. Ihr wisst doch, gut zudecken, kuscheln, Augen zu und Ohren auf, denn jetzt besuchen wir den Riesen von Wurzelbruck …
Bis zum nächsten Morgen war es noch ein etwas Zeit und so schaute Öseblöm sich in diesem kleinen Dorf ein wenig um. Ganz besonders hatte ihn die Brücke beeindruckt. Sie war tatsächlich aus den Baumwurzeln gewachsen.
Ganz stolz erklärten die Einwohner, dass einer ihrer Vorfahren vor langer, langer Zeit herausgefunden hatte, dass diese Luftwurzeln kräftig genug waren, um sie als Brücke zu verwenden. Und sie zeigten ihm jenes kleine Geheimnis, wie man die Bäume anpflanzen musste. Dieser wundersamen Brücke verdankte der Ort schließlich seinen Namen: Wurzelbruck.
Öseblöm sprach mit vielen Bewohnern, über dies und das, wie die Ernte ausfalle, ob sie Probleme mit Wölfen hätten und sonstigem Alltagsallerlei. Sobald allerdings das Gespräch auf den gefährlichen Riesen kam, traf er auf eine eisige Wand aus Schweigen. Da die Dorfbewohner aber im Grunde sehr gastfreundlich waren, boten sie unserem kleinen Wanderer ein schönes Zimmer mit einem warmen Bett und ließen ihn auch nicht verhungern.
Die Nacht verlief ruhig und ohne weitere Vorkommnisse. Was Öseblöm dagegen nicht wusste …
Hinter seinem Rücken wurde getuschelt und die Spannung im Dorf stieg immer weiter an, je mehr die Zeit voranschritt. Niemand von ihnen wäre bereit gewesen, sich dem gefährlichen Riesen zu stellen!
»Poch – Poch, Poch«, es war ziemlich früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht zu sehen. Öseblöm drehte sich in seinem kuscheligen Bett herum. »Poch – Poch, Poch«, das Klopfen an der Tür wurde fordernder.
Herr Öseblöm schaute aus dem Fenster. Es war noch dunkel. »Wer da?«, rief er zur Tür, wo es schon wieder geklopft hatte.
»Ich bin es, Lavida«, hörte er eine zarte Stimme, die so gar nicht zu dem energischen Klopfen an der Tür passen wollte. »Wir müssen uns jetzt opfern …«
Öseblöm fand den Gedanken, sich jetzt zu opfern ganz schauerlich. Er hatte ja noch nicht einmal gefrühstückt.
»Ich opfere mich nie vor dem Frühstück!«, rief er zur Tür, stand auf und schlüpfte in seine Hose hinein.
»Poch – Poch, Poch«, die junge Dame blieb unerbittlich. Nachdem Vinidi Öseblöm wenigstens eine kleine Morgenwäsche beendet hatte, schritt er zur Zimmertür, öffnete sie und schaute heraus.
»Poch – Ping, Pong …«, Lavida hatte zu spät bemerkt, dass sich die Tür öffnete und so traf sie unseren Öseblöm gleich zweimal kräftig auf die Nase.
»Au, aua«, rief er laut, konnte sich aber sein fröhliches Lachen nicht verkneifen. »Heute muss sich der Riese aber in acht nehmen!«
»Oh je,« rief die junge Dame, »das tut mir aber leid. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«
Dann stellte sie sich vor: »Ich bin Lavida, Lavida von Wurzelbruck. Mein Großvater sagte mir, dass Ihr mich heute begleitet.«
»Ein höfliches Kind«, dachte Öseblöm. »Das ist richtig«, antwortete er. »Aber Du darfst Öseblöm zu mir sagen, so wie es alle Freunde tun.«
»Danke,« sagte Lavida, »aber wir müssen jetzt los.« Unter einem Arm trug sie einen großen Korb mit köstlichen Leckereien, in der anderen Hand hielt sie eine kleine Tasche mit allerlei Geschirr.
»Der Riese muss warten«, entschied Öseblöm. »Ohne Frühstück gehe ich nirgendwo hin.«
Lavida bedachte den fremden Gast mit einem staunenden Blick. Dann griff sie kurz entschlossen in den Korb und reichte unserem Freund ein Stück Brot und etwas zu Trinken. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie in bittendem Ton. »Schließlich müssen wir mittags wieder zurück sein.«
»Aber wie kannst Du wissen, dass wir mittags zurück sein werden, wenn wir uns gleich opfern wollen?«, fragte Öseblöm und konnte seine Verwunderung nicht mehr verbergen.
»Psst«, machte die junge Dame nur und hielt dabei ihren Zeigefinger vor den geschlossenen Mund.
Öseblöms Neugier war geweckt. So verließen beide das Zimmer und schlichen leise durch einen Hinterausgang aus dem Haus. Im Dorf schlief noch alles tief und fest. Lavida ging schnellen Schrittes voran, unser Öseblöm folgt ihr. Der Brückenwächter bemerkte unsere beiden nicht, da sie das Dorf auf der anderen, der unbewachten Seite verließen.
So folgten sie eine Zeit lang dem Flusslauf nach Süden. Im Osten ging jetzt die Sonne auf und schickte ihre ersten Strahlen in das Land. Plötzlich wandte sich Lavida nach rechts.
Jetzt, nachdem sie das Dorf ein Stück hinter sich gelassen hatten, schritt Öseblöm auf gleicher Höhe neben der Dorfschönheit her.
»Willst Du mir jetzt nicht erzählen, was es mit dem Riesen auf sich hat?«, fragte er Lavida.
»Er ist ein gefährlicher Riese und eine große Gefahr«, erklärte die Enkeltochter des Dorfältesten. Damit war für sie die Angelegenheit bereits erledigt. Unser Öseblöm jedoch hatte das Gefühl, dass er sogar unerwünscht war. Aber er ließ sich zunächst nichts anmerken.
Als sie einen Hügel erreichten, sagte Lavida: »Du wartest hier! Ich bin gleich zurück.« Damit stieg sie hinauf zu einem einsam gelegen Haus. Das Haus war ziemlich groß. Öseblöm schätzte mindestens doppelt so groß wie die Häuser im Dorf. Dort wohnte also der Riese. »Das muss ein sehr einsamer Riese sein«, dachte Öseblöm und folgte langsam der jungen Dame.
Tja, liebe Kinder, ob einsam oder allein, das werden wir morgen erfahren. Denn jetzt heißt es …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«