Die große Hoffnung
»Nun liebe Kinder, seid Ihr bereit?«
Dann lasst uns nicht lange aufhalten. Sobald Ihr also im Bett liegt, und Ihr so richtig schön kuschelt, können wir mit der Erzählung fortfahren …
In Wurzelbruck war die Aufregung groß. Die Dorfbewohner rannten überall umher und riefen nach Lavida. Kerim, der Dorfälteste klopfte immer wieder an Öseblöms Zimmertür, aber es regte sich nichts.
»Herr Öseblöm!«, rief Kerim laut. »Herr Öseblöm, stehen Sie bitte sofort auf. Lavida ist verschwunden!«
Aber sein lautes Pochen an der Tür blieb natürlich unbeantwortet. Denn unser Öseblöm saß ja bereits auf dem Tisch des Riesen, der überhaupt nicht gefährlich war …
***
»Was ist das für eine Idee?«, fragte Handan, der Riese von Wurzelbruck den freundlichen Wanderer. Öseblöm lächelte noch immer spitzbübisch.
»Also,« erklärte er, »ich werde zuerst ins Dorf zurückgehen – allein. Ihr wartet hier solange, bis ich Euch hole. Vertraut mir!« Mit diesen Worten sprang unser Öseblöm wieder mit einem Satz vom Tisch herunter.
»Und Du meinst wirklich, dass Du uns helfen kannst?«, fragte Lavida zweifelnd, die noch immer von Tränen gerötete Augen hatte.
Die Enkelin des Dorfältesten kannte unseren Öseblöm nicht, aber sie fasste Vertrauen zu dem freundlichen Fremden. Öseblöm winkte den beiden noch einmal zu und machte sich auf den Weg. Er hatte große Hoffnung geweckt bei Lavida und dem Riesen. Noch vor Mittag erreichte er das Dorf.
Ihm schwoll ein ungewöhnlicher Lärm entgegen. Überall laute Rufe nach Lavida und auch ihm. Mittlerweile hatte nämlich Kerim, der Dorfälteste, Öseblöms Zimmertür geöffnet und fand ein leeres Zimmer vor. Nun machten sich alle noch mehr Sorgen.
Der Brückenwächter war der Erste, der unseren Öseblöm bemerkte. Mit seinem kleinen Horn blies er Alarm. Sogleich kehrte Ruhe ein und alles versammelte sich um ihn.
»Hast Du sie gefunden?«, fragte Kerim.
Der Wächter deutete mit dem Zeigefinger auf den unbewachten Dorfeingang. »Nur den Fremden, oh Herr«, sagte er. »Den Herrn Öseblöm.«
»Der Wanderer ist allein«, rief Kerim voller Entsetzen. »Jetzt hat der Riese meine Enkeltochter gefressen!«
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Sämtlichen Dorfbewohnern fuhr die Angst buchstäblich ins Herz. »Und jetzt wird der Riese uns alle holen«, rief jemand.
»Einen nach dem anderen«, ergänzte ein Zweiter.
Mittlerweile hatte unser Öseblöm den Dorfplatz erreicht. Er schaute in die betretenen Gesichter und die ängstlichen Blicke.
»Hast Du den Riesen gesehen?«, fragte der Dorfälteste. »Wo ist meine Enkeltochter? Hat er sie gefressen? Warum hast Du ihr nicht geholfen?« Kerim bestürmte den Wanderer und wartete gar keine Antwort ab.
»Du bist mir ja ein schöner Sammler von Abenteuern. Kannst nicht einmal meine Enkelin beschützen. Hast Dich wahrscheinlich in ein Gebüsch verkrochen. Du bist ja nicht einmal verletzt.«
Kerim war außer sich vor Angst und Zorn. Da trat Öseblöm an den Ältesten heran und berührte ihn mit der Hand an dessen Schulter.
»Ganz ruhig, mein Freund«, sagte Öseblöm. Er sprach freundlich, aber bestimmt. Und wie so oft zeigte dies Wirkung. Der Dorfälteste beruhigte sich und schwieg. Plötzlich konnte er zuhören.
»Es ist alles in Ordnung«, erklärte Öseblöm. »Deine Enkeltochter ist noch bei Handan.«
»Wer ist Handan?«, rief einer aus der Menge.
»War das nicht ein Junge aus unserem Dorf?«, fragte da ein anderer. Es gab noch einige, die sich erinnern konnten. »Ja, genau«, rief wieder ein anderer. »Das war der Junge, der immer größer wurde und plötzlich an die Decke stieß.«
Kerim musste sich setzen. »Ist das etwa der Riese, den ich einmal gesehen hatte?«, fragte er und wandte sich damit an Öseblöm.
»Ja«, antwortete Öseblöm. »Handan ist der Junge aus Eurem Dorf, der Riese von Wurzelbruck. Und ich soll Euch ausrichten, dass er überhaupt nicht gefährlich für Euch ist, denn er vermisst Euch! Lavida, Deine Enkeltochter, wusste das und hat ihm jeden Tag zu Essen gebracht.«
Jetzt war die Aufregung im Dorf groß. Einige wollten die Geschichte überhaupt nicht glauben, andere wiederum wollten sofort den Riesen besuchen, um sich zu entschuldigen.
»Und meiner Enkeltochter geht es wirklich gut?«, vergewisserte sich Kerim noch einmal. Er glaubte unserem Öseblöm. »Natürlich geht es ihr gut«, antwortete unser Held. »Allerdings ist sie traurig, dass Ihr alle den Riesen mit Euren Waffen bedroht und ihn vertreiben wollt. Und jetzt haben beide Angst, hierher zu kommen.« – »Der Riese hat Angst zu uns zu kommen?«, fragte der Brückenwächter. »Aber er stammt doch aus unserem Dorf!« – »Vinidi Öseblöm, von Öseblömhausen, Öseblöm«, sprach Kerim nun fast feierlich. »Würdest Du dem Riesen bitte ausrichten, dass er uns jederzeit willkommen ist.« Die Dorfbewohner stimmten mit ein.
Doch für uns muss es das für heute gewesen sein. Denn jetzt heißt es wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«