Legenden
»Nun, seid Ihr bereit für die nächste Geschichte?«
Ihr wisst doch …, für eine wirklich schöne Gutenachtgeschichte, muss man schon im Bett liegen. Also deckt Euch wieder gut zu, schließt Eure Augen und passt gut auf, denn jetzt sind wir wieder auf der Veranda bei unseren fünf Burschen, Amira und Pepe, dem Adler vom hohen Berg, und natürlich unserem Herrn Öseblöm. Der hatte ja gerade die Geschichte von Dix und Dax erzählt.
Die fünf Burschen saßen da mit offenen Mündern und kamen aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Amira sagte nichts dazu. Sie kannte diese Geschichte bereits, ja, sie war sogar dem Riesen schon einmal begegnet. Aber das ist eine andere Geschichte.
»Ist so ein Riese nicht unheimlich?«, fragte Don Carlos, der sehr aufmerksam der Erzählung gefolgt war.
»Nun ja«, sagte Öseblöm. »Die Dorfbewohner von Wurzelbruck finden es jetzt wohl ganz praktisch.«
»Wieso ist ein Riese praktisch?«, wollte nun Mallewutz wissen.
»Tja,« erklärte unser Wanderer, »Handan hilft den Bewohnern von Wurzelbruck zum Beispiel bei der Feldarbeit. Wofür die sonst eine Woche benötigten, das erledigt der Riese jetzt in einem halben Tag. Ich glaube, er braucht das, um fit zu bleiben.«
»So einen Riesen könnten wir hier auch gut gebrauchen«, überlegte Kalle, der noch immer mit großem Staunen da saß und auf einmal das Gefühl hatte, mitten in einem echten Abenteuer zu sein.
»Du, Öseblöm, was bedeutet eigentlich, dass Du auf der großen Suche bist? Was suchst Du denn?«, fragte Dralle, der seine Neugier nicht mehr zügeln konnte.
Öseblöm lächelte etwas verlegen, aber er schwieg.
»Willst Du uns das nicht erzählen?«, fragte Kalle. »Wir sind doch Deine Freunde!«
»Das braucht er uns gar nicht zu erzählen«, platzte Balthasar dazwischen. Und unter Tränen fuhr er fort: »Er wird nämlich bald wieder weg sein!«
Überrascht schauten alle zum Kleinsten der fünf Burschen, der jetzt erst richtig in Tränen ausbrach.
»Aber wie kommst Du denn darauf, Balthasar?«, fragte Amira, die den kleinen Burschen schon in ihr Herz geschlossen hatte.
»Ihr habt wohl nicht zugehört, was?«, murrte Balthasar vorwurfsvoll. »Wanderer haben die Eigenart nie lange zu bleiben … Und unser Öseblöm ist doch ein WANDERER! Das heißt, er ist bald wieder weg.«
Nun nahm Öseblöm den kleinen Burschen fest in den Arm und drückte ihn ganz herzlich.
»Mein kleiner Freund,« begann er da mit sanfter Stimme, »es ist richtig, dass ich auf der Suche bin. Und es ist auch richtig, dass ich ein Wanderer bin. Aber erstens bin ich ein Wanderer ohne Wanderstiefel. Und zweitens habe ich doch schon versprochen, dass ich eine Weile bei Euch bleiben werde. Und was ich verspreche, das halte ich auch!«
Balthasar mochte sich noch immer nicht beruhigen.
»Aber wenn Du dann gehst, kommst Du bestimmt nicht mehr zurück …«, setzte er nach und wieder rannen große Tränen seine Wange herunter.
»Bisher habe ich meine Freunde immer wieder gesehen«, erklärte Öseblöm. »Auch den Riesen habe ich schon mehrfach wieder besucht. Mit meinen Wanderstiefeln war das ja auch kein Problem.«
»Und ich Dummkopf habe die Stiefel nebeneinander gestellt«, rief Mallewutz und schlug sich dabei mit seiner Hand gegen die Stirn.
»Das konntest Du ja nicht wissen, lieber Mallewutz«, sagte Amira. »Dann müsst ihr eben morgen bei der Suche helfen. Das ist doch ganz einfach.«
»Was auch immer Du suchst, Öseblöm, wir helfen Dir«, erklärte Kalle feierlich.
»Da fangen wir am besten mit dem Zauberwald an«, warf Don Carlos ein, der sich gerne an der Suche beteiligen wollte. »Wo können wir den finden? Ich habe noch nie etwas von einem Zauberwald gehört.«
»Ich auch nicht«, sagte Malle. »Und ich habe in der Schule immer gut aufgepasst. Von einem Zauberwald hat kein Lehrer etwas erzählt. Das wüsste ich. Ganz bestimmt.«
»Der Zauberwald gehört ins Reich der Sagen und Geschichten«, erklärte Amira. »Niemand weiß, wo der Zauberwald ist, und ob es ihn je gegeben hat.«
»Es ist eine Legende,« erklärte Öseblöm, »eine uralte Überlieferung. Davon gibt es viele in unserer Welt, und manche haben einen wahren Kern.«
»Aber wenn der Riese doch gesagt hat, Du könntest im Zauberwald Hilfe erhalten, dann muss es ihn doch geben, oder?«, fragte nun Pepe, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete. »Und vom wem sollte er Dir das ausrichten? Das klingt ja ziemlich geheimnisvoll.«
»Also, vom hohen Berg aus, kann man keinen Zauberwald erkennen«, erklärte Don Carlos.
»Nein«, sagte Öseblöm mit einem verschmitzten Lächeln. »Bis auf ein leeres Nest ist da nichts oben auf dem hohen Berg.« – »Leeres Nest?«, fragte Don Carlos. »Wieso leeres Nest? Hat jemand etwa mein Abendbrot gestohlen?« – »Dein Abendbrot, werter Adler vom hohen Berg,« sprach Amira dazwischen, »hat meinem Pepe das Leben gerettet. Und Vinidis Leben ebenso!«
Don Carlos staunte nicht schlecht, als er dies hörte. Sie hatten sich wohl noch viel zu berichten, so viel war klar. Doch drängten jetzt alle unseren Öseblöm, zuerst die Legende vom Zauberwald zu erzählen. Das machte unser Held natürlich mit Freude. Aber Ihr liebe Kinder, sollt erst morgen davon erfahren. Denn für Euch heißt es jetzt wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«