Ein geheimer Weg
»Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag?«
Dann wird es Zeit, diesen mit einer schönen Geschichte zu beenden. Schlüpft also wieder in Euer Bett, deckt Euch gut zu und macht es Euch so richtig gemütlich. Ihr wisst ja, mit geschlossenen Augen und offenen Ohren könnt Ihr das Abenteuer am besten mitverfolgen. Jetzt erfahren wir das Geheimnis des hohen Berges …
Es wurde ganz still unter den Schafen und unsere Abenteurer blickten voller Spannung zu dem Bock, der ihnen manchmal etwas langsam erschien.
»Ein geheimer Weg?«, fragte Don Carlos.
»Nun ja, nicht wirklich geheim«, meinte der Herdenführer. »Der Weg ist halt in Vergessenheit geraten und jetzt spricht keiner mehr davon.«
»Ich kenne alle Wege rund um den hohen Berg!«, rief Don Carlos. »Und mir ist kein geheimer Weg bekannt, der in Vergessenheit geraten ist.«
»Dann wäre er ja auch nicht in Vergessenheit geraten, oder?«, mischte sich die kleine Marie ein, die aber auch noch niemals etwas von einem solchen Weg gehört hatte.
Der Bock schien wieder nachzudenken. Langsam, aber er versuchte sich dabei zu beeilen.
»Und wo ist dieser seltsame Weg?«, fragte nun Kalle, der sich sofort aufmachen wollte, um keine Zeit zu verlieren. Falls der kleine Zwerg sich in Gefahr befand, sollten sie sich beeilen.
»Ihr müsst weiter in die Richtung, wo die Sonne am höchsten steht. Dort findet ihr, verborgen hinter drei großen Bäumen und vielen dichten Büschen den Zugang zu einer Höhle …«
»Bin ich nicht zu groß für eine kleine Höhle?«, fragte Handan, der noch keine Höhle gefunden hatte, die ihm auch nur annähernd Platz geboten hätte.
Der Bock betrachtete den Riesen von Wurzelbruck und schien dessen Größe abzuschätzen.
»Du findest leicht hinein, denn allein der Eingang ist bestimmt dreimal so groß, wie Du es bist.«
»Einen solchen Eingang hätte ich doch schon längst gesehen«, zweifelte der Adler vom hohen Berg. »Warum ist mir so eine Höhle nie aufgefallen?«
»Weil Sie von den Bäumen bewacht und von den Büschen versteckt wird«, erklärte der Bock.
»Und wie kommen wir dann auf die andere Seite des hohen Berges?«, fragte Kalle. Insgeheim stellte sich der junge Bursche noch ganz andere Fragen, aber auch er begann zu lernen, dass man alles Schritt für Schritt erkunden musste.
»Es ist die größte Höhle, die Ihr Euch vorstellen könnt«, erklärte der Herdenführer. »Sie führt mitten durch den hohen Berg zur anderen Seite des Gebirges.«
»Du behauptest also, dass unter meinem Nest ein großes Loch in dem Berg ist, das von einer Seite zur anderen führt?«, Don Carlos war sichtlich erschüttert. »Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich durch diesen großen Berg krabbeln werde?!«
»Es gibt keinen schnelleren Weg«, sagte der Bock. »Aber …«
»… aber was?«, fragte Handan, der sich nicht vorstellen wollte, dass er möglicherweise auf allen Vieren durch diese Höhle krabbeln musste.
»Aber der Weg ist seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden«, murrte der Herdenführer. Der Bock mochte es nicht, wenn man ihn unterbrach.
»Wenn es nach mir geht, wird das auch so bleiben«, sagte Don Carlos, breitete seine Schwingen aus und hob sich mit zwei, drei Flügelschlägen in die Luft.
»Ihr zwei könnt ja durch die Höhle gehen«, rief er noch Kalle und dem Riesen zu. »Ich fliege derweil zur anderen Seite der Höhle und warte dort auf Euch.« Damit gewann er rasch an Höhe und war nach kurzer Zeit nur noch als kleiner Punkt am Himmel zu sehen.
»Auf der anderen Seite der Höhle stehen keine Bäume …«, rief der Bock dem Adler noch nach, aber Don Carlos hörte ihn nicht mehr. »So wird er den Eingang nicht finden.«
»Na toll«, sagte Kalle. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
Er kletterte auf die Schulter des Riesen und gab ein Zeichen zum Aufbruch. Handan erhob sich vorsichtig und machte sich mit großen Schritten auf den Weg nach Süden, immer weiter auf das große Gebirge zu. Unsere Abenteurer wollten sich beeilen, deshalb vergaß Handan auch, sich auf Zehenspitzen zu bewegen. Das Donnern und Beben seiner mächtigen Schritte war wieder meilenweit zu hören.
Die Schafe aber standen dicht beieinander und machten sich ihre Gedanken über Zwerge und Riesen, sprechende Adler und geheime Höhlen.
»Sie haben sich nicht einmal verabschiedet«, stellte Marie traurig fest.
»Ja, so sind sie«, bemerkte der Bock. »Immer in Eile, immer zu schnell.«
»Werden Sie es schaffen?«, fragte Marie, die nun richtig in Sorge war. Auch wenn sie Kalle und den Riesen noch nicht so gut kannte, so hatte sie die beiden schon fest in ihr kleines Herz geschlossen. – »Nein«, antwortete der Herdenführer. »Sie haben kein Licht in der Höhle, sie haben kein Licht!« – »Aber warum hast Du das ihnen nicht gesagt?«, fragte Marie ein wenig vorwurfsvoll. – »Sie sind zu schnell«, antwortete der Bock. »Sie sind einfach zu schnell …«
Tja, für Euch liebe Kinder wird es jetzt ganz langsam wieder Zeit, ins Traumland zu reisen …
Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«