Baum mit Hut
»Und wieder ist es Zeit für eine Gutenachtgeschichte …«
Ihr kennt ja schon das Ritual, oder? Bitte gut zudecken, schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, jetzt wird es gemütlich, denn wir schauen uns an, wie es unseren Freunden im Zauberwald erging …
»Lass uns von hier verschwinden«, sagte Amira aus sicherer Entfernung. »Es wird mir zu ungemütlich.«
»Noch nicht«, bat Öseblöm. »Warte bitte noch einen Moment. Die »buschige Liebe« soll uns zuerst erklären, was hier passiert ist. Was ist aus dem Zauberwald geworden? Was ist geschehen, seit unserem letzten Besuch?«
Der Busch dachte nach und schien sich zu erinnern. Seine Blätter färbten sich wieder tiefrot …
»Ihr seid gekommen. Ihr wollt ihn holen …, ihr wollt ihn schlagen … ICH werde HELFEN …!«
»Wir schlagen niemanden«, sagte Öseblöm. »Jedenfalls nicht unsere Freunde. Und wir sind doch Freunde, oder?«
Wieder dachte der Busch nach. Jetzt färbten sich seine Blätter grün. »Ja, Freunde, wir sind Freunde, liebe Freunde.«
»Ganz genau«, bestätigte Öseblöm und fuhr fort: »Bei unserem letzten Besuch hier im Wald, hatte ich meinen grünen Jägerhut verloren. Weißt Du zufällig, wo ich den finden kann. Er fehlt mir …«
»Oh, sein Hut«, sagte der Busch. »Er will ihn holen, er fehlt ihm. Und dann wird er ihn schlagen …«
Von Neuem färbten sich die Blätter des Busches tiefrot und zitterten so stark, als wenn ein Sturm durch den Wald gefegt sei.
»Du weißt, dass ich Euer Freund bin«, beschwichtigte Öseblöm den aufgeregten Busch.
»Ich schlage niemals meine Freunde. Und der Hut gehört doch mir. Ich hatte ihn nur verloren. Kannst Du mir nicht helfen?«
»Er gehört ihm«, sagte der Busch. »Ja, er gehört ihm und er fehlt ihm. Darum will er ihn holen. Ich werde helfen …, auch wenn alle traurig, ich bin ein trauriger Freund …«
Öseblöm schaute verwundert zu seiner Freundin herüber, die noch immer in sicherer Entfernung wartete und sich ihre Federn ordnete. Der Busch hatte ihr wunderschönes Federkleid ziemlich durcheinandergebracht …
»Lass uns gehen, Öseblöm«, drängte die Adlerdame. Sie hatte nichts mehr übrig für die Stimmungen eines launigen Busches.
»Einen Moment noch,« sagte Öseblöm, »er wird uns jetzt helfen!«
»Genau!«, rief der Busch. »Er wird Euch jetzt helfen. Den grünen Hut findet Ihr …«
»… sie werden ihn holen, sie werden ihn schlagen, sie sind bald hier …«. Wieder ertönte das Flüstern im Wald. Jetzt aber schwoll es bedrohlich an und wurde vom Wind getragen bis zum letzten Blatt des letzten Baumes im Zauberwald.
Der Busch traute sich nicht mehr und schwieg.
»Mein liebster Freund«, begann unser Öseblöm von Neuem mit großer Geduld. »Wie müssen wir denn weitergehn, nur um den grünen Hut zu sehn‘?«
Dieser Reim gefiel dem Busch.
»Folgt dem Pfad bis zur Lichtung«, flüsterte er. »Da müsst Ihr dann schnell drüber gehen, nur um den grünen Hut zu sehn‘ …«
Danach zitterte der Busch und warf alle seine Blätter ab. Jetzt stand er so kahl, wie im tiefsten Winter und schwieg. Von nun an wollte er niemals mehr etwas erzählen …
Unser Öseblöm aber wandte sich nun seiner Freundin zu und sagte: »Jetzt können wir gehen. Ich weiß nun, wo mein Hut ist und ich ahne bereits, was hier los ist.«
Unser Abenteurer schritt wieder voran und die Adlerdame Amira folgte ihm. Es war der Pfad, den sie erst vor Kurzem entlang gegangen waren, um den Adler Don Carlos zu befreien; nur dass sie diesmal kein Wimmern und Jammern hörten. Ganz im Gegenteil, es herrschte eisige Stille. So wie die Eule ihnen den Rücken gekehrt hatte, so schienen sich jetzt alle Bäume und Büsche von ihnen abzuwenden.
»Findest Du das nicht auch merkwürdig?«, fragte Amira. Auch unsere Adlerdame hatte schon viel erlebt, aber dieser Wald versetzte sie in großes Erstaunen. »Diese eigenartige Stille.«
»Nein«, antwortete Öseblöm. »Ganz und gar nicht. Denn wir sind jetzt hier. Und wir sind gekommen, ihn zu holen. Aber wir werden ihn nicht schlagen …«
»Was redest Du da?«, fragte Amira. »Und vor allem, mit wem redest Du da?«
»Man beobachtet uns«, erklärte der Wanderer. »Und man hört uns gut zu!«
Endlich erreichten die beiden die Lichtung. Noch immer neigten sich die riesigen Bäume zur Mitte hin und bildeten mit ihren mächtigen Ästen ein schönes Dach. Mitten auf der Lichtung lag noch immer ein Baumstamm. Daneben reckte sich ein jüngerer Baum in die Höhe und versteckte seine Baumkrone im dichten Grün der anderen Bäume.
»Also gut,« sagte Öseblöm, »dann laufen wir einmal schnell quer über diese Lichtung.« – Amira verspürte keine Lust zu laufen, breitete ihre Flügel aus und überquerte mit wenigen Flügelschlägen die Lichtung. Öseblöm spurtete hinterher. Der junge Baum, in der Mitte der Lichtung, neigte sich neugierig nach unten … und gab die Sicht frei auf Öseblöms Hut, den er auf seiner Spitze trug. – »Ein Baum mit Hut …«, lachte Öseblöm und hatte verstanden …
Ob mit oder ohne Hut, auf Euch liebe Kinder wartet jetzt das Traumland. Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«