Ein guter Morgen
»Ich hoffe, Ihr hattet letzte Nacht angenehme Träume?«
Denn heute wollen wir uns ein weiteres Mal ganz rasch unseren Freunden widmen. Also macht Euch bereit, schlüpft unter Eure Decke, schließt bitte wieder die Augen und spitzt Eure Ohren. Ihr wisst ja, nur so könnt Ihr alles wirklich gut miterleben …
Nachdem Kasran mit dem Zwerg in einem mächtigen Blitz davongeeilt war, glühte der alte Baum noch immer vor sich hin und erhellte den Lagerplatz. Ein fluoreszierendes Leuchten ging von seinen Ästen aus und ließ ihn wie einen großen Lichterbaum aussehen.
»Sobald die Sonne aufgeht, werden wir ihm folgen«, sagte Kalle, der langsam zu einem richtigen Abenteurer heranreifte. »Aber jetzt sollten wir noch ein wenig schlafen. Ich denke, es wird trotzdem eine anstrengende Reise.«
»Kalle hat recht«, stimmte Öseblöm zu. »Wir sollten jetzt noch eine Mütze voll Schlaf nehmen, damit wir uns frisch und ausgeruht auf den Weg machen können.«
Die kleine Betty kuschelte sich zu unserem Wanderer. Handan drehte sich auf seine »Schlafseite« und schlief sofort ein.
Nur Don Carlos und Amira saßen neben dem Lagerfeuer und traten verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Was ist mit Euch?«, fragte Kalle.
»Wo sollen wir schlafen?«, wollte Amira wissen. »Hier am Boden, neben dem Lagerfeuer, kann ich unmöglich auch nur ein Auge schließen, geschweige denn schlafen …«
»Ihr dürft ruhig wieder zu mir kommen!«, rief der Baum. Dabei schien seine Stimme wieder kräftiger geworden zu sein.
»Damit wir uns unsere Füße verbrennen?«, fragte Don Carlos. »Du brennst doch noch lichterloh!«
»Das ist kein Feuer«, erklärte Öseblöm. »Sieh nur …«
Unser Wanderer trat erneut an den Baum heran und berührte den leuchtenden Stamm mit seiner Hand. Sofort funkelte es an dieser Stelle etwas intensiver. Aber sonst geschah nichts. Kein Feuer, keine Flamme und unser Wanderer verbrannte sich auch nicht seine Hand.
»Ich sagte doch, dass Ihr ruhig wieder zu mir kommen dürft«, forderte der Baum die beiden Adler auf, den Rest der Nacht auf einem seiner Äste zu verbringen.
Amira zögerte noch immer.
»Jetzt kommt!«, rief Öseblöm. »Wir wollen alle noch etwas Schlaf bekommen und Ihr doch sicher auch, nicht wahr?«
Don Carlos breitete als Erster seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte, um dann auf einem der Äste wieder Platz zu nehmen. Dann folgte auch die Adlerdame.
Unter ihren Krallen leuchteten die Äste besonders intensiv. Amira trat anfangs noch von einem Fuß auf den anderen, aber als sie schließlich merkte, dass die Äste überhaupt nicht heiß wurden, beruhigte auch sie sich endlich.
So verbrachten unsere Freunde den Rest der Nacht neben dem lichterloh leuchtenden Baum, dessen Glanz mit der ersten Morgendämmerung verblasste.
Kalle wurde als Erster wach. Er blinzelte mit den Augen, als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht berührten. Dann staunte er.
Der knochige alte Baum war verschwunden. Vor unseren Freunden erhob sich ein grüner Riese, größer und prächtiger als je zuvor. Jetzt musste sogar Handan zu ihm aufschauen. Überall trieb der Baum neue Blätter und Zweige und er fühlte sich frisch, jung und kräftig.
»Jetzt wirst Du so schnell nicht in die Tiefe stürzen«, sagte Öseblöm, der mittlerweile auch aufgewacht war.
»Das ist wohl wahr«, meinte der Baum, der nun in jugendlicher Frische strahlte.
»Das nenne ich einen majestätischen Baum«, meldete sich Don Carlos zu Wort. »Was um alles in der Welt ist denn hier geschehen?«
»Das ist das Geschenk des Lichtwesens«, flüsterte das kleine Eichhörnchen voller Ehrfurcht.
»Na, wenn das kein guter Morgen ist!«, rief der Riese von Wurzelbruck, als er den strahlenden Baum erblickte. »Dann können wir uns ja unbesorgt auf den Weg machen.«
Die kleine Betty huschte blitzschnell am Baum entlang nach oben, sprang von Ast zu Ast und landete auf Don Carlos Rücken. »Pss, pss, pss, pss.«
»Was flüstert Ihr denn da oben?«, fragte Kalle, der schon wieder alles für die Reise gepackt hatte.
»Sie möchte mitkommen!«, rief Don Carlos.
»Na, wir werden die kleine Betty schon nicht zurücklassen«, murrte Amira.
»Nein, Betty möchte gerne die jungen Burschen kennenlernen«, erklärte Don Carlos. »Sie möchte mit Euch zusammen zurück.« – Unser Öseblöm überdachte das Ganze, dann lächelte er: »Warum nicht«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher Malle, Dralle, Mallewutz und Balthasar werden sich freuen, Deine Bekanntschaft zu machen.« – »Oh, Lavida wird sich ganz bestimmt auch freuen, die kleine Betty kennenzulernen«, stimmte auch Handan zu. So machten sich unsere Freunde auf die Heimreise, jedoch nicht, ohne sich vorher von dem Baum verabschiedet zu haben, der nun unbedingt auch einen Namen haben wollte.
Für Euch liebe Kinder ist es aber wieder Zeit. Darum heißt es jetzt:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«