Wo ist Dralle?
»Seid Ihr wieder bereit? Es ist soweit.«
Dann lasst uns den Tag beschließen mit einer schönen Gutenachtgeschichte. Dazu müsst Ihr natürlich ins Bett, denn Gutenachtgeschichten lassen sich da am besten erzählen. Also bitte wieder schön kuscheln, Augen zu und Ohren auf. Jetzt schauen wir uns an, wie unsere Freunde »ein ernstes Wort« reden …
»Öseblöm, bist Du da drin?«, brüllte der Riese wieder und klopfte erneut auf das Dach, ganz so wie normale Menschen vielleicht an eine Tür klopfen würden. Der Unterschied war nur der, dass hier das ganze Schulgebäude erzitterte und die Schüler und Lehrer darin ebenfalls.
Herr Öseblöm jedenfalls ließ den Lehrer kurz stehen, ging rasch zu einem Fenster, öffnete es und steckte seinen Kopf heraus.
»Ich bin hier gleich fertig«, rief er. »Dann kümmern wir uns um die Rüpel!«
Mallewutz und Balthasar saßen immer noch ganz brav auf ihren Plätzen.
»Machen wir jetzt doch keinen Unterricht mehr?«, fragte nun Mallewutz.
In der Klasse war es gespenstisch still. Ihr Lehrer stand hilflos an der Tür und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, die anderen Schüler hielten sich dicht gedrängt in den Ecken und an der Wand auf.
»Setzt Euch doch bitte alle wieder auf Eure Plätze!«, rief Öseblöm. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Der Riese da draußen ist ein Freund von uns. Ein ganz lieber Kerl, vielleicht etwas ungestüm und na ja, man sollte ihn wohl auch nicht verärgern, aber sonst ist er ganz harmlos.«
Langsam kehrte jeder auf seinen Platz zurück und auch der Lehrer fasste ein wenig Vertrauen. Unser Öseblöm wirkte wieder sympathisch und friedfertig. Dann erklärte der Wanderer allen, was passiert war …
»… und jetzt sind wir auf der Suche nach unserem Freund Dralle«, endete Öseblöm mit seiner Erklärung. »Ich hoffe auch, dass die Verspätungen meiner Freunde hier nun hinreichend entschuldigt sind.«
Der Lehrer nickte nur und zeigte ein erstes zaghaftes Lächeln.
»Wo ist Kreszenz jetzt?«, fragte er.
»Der hat sich hier im Haus versteckt und bibbert vermutlich vor Angst«, antwortete Öseblöm. Dann ging er erneut zum Fenster und bat Handan, sich erst einmal zurückzuziehen.
»Oh, schade«, rief der Riese. »Ich hätte so gerne auch ein ernstes Wort mit den Rüpeln geredet.«
»Das hast Du doch«, bemerkte Öseblöm und grinste. »Geh jetzt, wir treffen uns später bei Lavida.«
Der Riese von Wurzelbruck setzte zuvor noch seinen Freund Malle ab, dann trat er den Heimweg an. Diesmal schlich er jedoch auf Zehenspitzen, um keinen weiteren Schrecken zu verbreiten. Kalle und Malle bewachten derweil den Schuleingang.
Langsam beruhigten sich die Schüler und Lehrer im Haus und es sprach sich herum, was passiert war.
»Sie sind auf der Toilette!«, rief ein Kind ihnen zu, als Öseblöm und der Lehrer den Gang entlang liefen, um die Rüpel zu finden.
Die anderen Lehrerkollegen hatten sich schon vor der Toilette versammelt und warteten.
»Wenn Sie erlauben, möchte ich zuerst allein mit den Jungs reden«, bat Öseblöm. »Sie haben genug Angst gehabt, denke ich.«
Unser Wanderer wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern ging sogleich hinein. Der Anblick der fünf Jungs war erbärmlich. Kreszenz hockte kreidebleich in einer Ecke, seine Knie zitterten und er hielt sich seine Hände vors Gesicht. Seine Freunde saßen neben ihm und wimmerten vor Angst.
»Das sind keine Abenteurer«, dachte Öseblöm und sagte: »Ihr habt jetzt nur noch eine einzige Chance alles wieder gutzumachen. Sagt mir, wo mein Freund Dralle ist.«
»Wir sind verloren«, wimmerte Kreszenz.
»Genau,« riefen die anderen, »der Riese will uns fressen! Er hat noch nicht gefrühstückt …«
Jetzt wurde das Jammern unerträglich. Die Rüpel nahmen überhaupt keine Notiz von unserem Helden. Da beugte sich Öseblöm zum Anführer der Rüpelbande herunter und berührte ihn sanft an der Schulter. Langsam beruhigte sich Kreszenz und seine Freunde ebenso.
»Sagt mir bitte, wo ich meinen Freund Dralle finde«, bat Öseblöm noch einmal die Jungs.
»Das wissen wir nicht«, schluchzte Kreszenz.
»Was habt Ihr ihm bloß angetan?«, wollte Öseblöm wissen.
»Nichts«, beteuerte der Anführer. »Er ist einfach davongelaufen.«
Öseblöm schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass Dralle wegen ein paar maulender Rüpel davongelaufen war. Da musste mehr passiert sein.
»Also, was habt Ihr ihm noch alles gesagt?«, fragte Öseblöm. – »Nichts«, log Kreszenz, der immer noch große Angst hatte. Jetzt schaute Öseblöm jedem Einzelnen tief in die Augen. Der Wanderer schwieg und sein Schweigen wurde immer kälter und schärfer. – »Und Du tust uns auch nichts?«, fragte der Jüngste der Rüpel. – »Ich werde Euch nichts antun«, versprach Öseblöm. Stille. Das schlechte Gewissen nagte an den Jungs. – »Krass hat Dralle und seine Freunde als elternloses Pack bezeichnet«, gestand der Jüngste dieser Rüpeltruppe, die wohl fortan keine Freunde mehr sein würden.
Für Euch liebe Kinder ist es jetzt Zeit … Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«