Das leere Feld
»Wieder einmal ist es so weit, ich hoffe sehr, Ihr seid bereit.«
Dann lasst uns diesen Tag mit einer schönen Geschichte beschließen. Also bitte wieder ins Bett, gut zudecken, so richtig gemütlich kuscheln, Augen zu und Ohren weit auf. Jetzt schauen wir zu unseren Freunden, die sich auf Handans Schultern auf die Suche machten …
Kreszenz konnte es immer noch nicht glauben. Er saß tatsächlich auf der Schulter eines unglaublichen Riesen. Neben ihm hielt sich der kleine Balthasar fest, auf der anderen Seite saß Mallewutz. Von hier oben sah alles so klein aus.
Handan, der Riese von Wurzelbruck, schlich auf leisen Zehen voran, um ja keine Erschütterung zu verursachen. Dennoch, überall schauten die Menschen aus den Fenstern, um unsere Abenteurer zu beobachten.
»Ihr habt es wirklich gut«, bemerkte Kreszenz.
»Was meinst Du?«, fragte Balthasar.
»Na ja«, erklärte Kreszenz. »Ihr habt mächtige Freunde und erlebt richtige Abenteuer. Nicht so ein Kinderkram, wie bei uns. Ich würde am liebsten mit Euch tauschen.«
Der kleine Balthasar wurde ganz nachdenklich. Natürlich freute er sich über die neuen Freunde, ja, er war sogar ein bisschen stolz darauf. Aber das andere ihn dafür beneiden könnten, erstaunte ihn.
»Dann hättest Du aber keine Eltern mehr«, gab Balthasar zu bedenken.
»Ach«, meinte Kreszenz. »Die hab ich ja sowieso nicht richtig. Die sind ja nie da. Immer müssen sie arbeiten und haben es ganz wichtig. Alles ist wichtiger als wir Kinder.«
Auch Handan hatte gut zugehört.
»Aber Dein Vater hat sich doch um Dich gekümmert«, stellte er fest. »Immerhin ist er einem Wanderer und einem Riesen entgegengetreten, nur um Dir zu helfen. Das war doch ziemlich mutig, findest Du nicht.«
»Das war einfach nur töricht«, platzte Mallewutz dazwischen. »Aber immerhin hat er es noch erkannt, bevor es zu spät gewesen wäre.«
Balthasar grinste, als er daran dachte, wie höflich und zuvorkommend der Bürgermeister plötzlich sein konnte.
»Aber ist es nicht klug, wenn man aus Fehlern lernt?«, fragte Handan. »Ich für meinen Teil freue mich über neue Freunde, denn ich habe lange genug unter meiner Größe gelitten. Trotzdem möchte ich mit niemandem tauschen.«
So näherten sich unsere Vier langsam dem Feld der jungen Burschen. Kreszenz fühlte sich zunehmend wohl in der neuen Gesellschaft, aber sein Gewissen nagte noch an ihm. Mittlerweile bereute er sehr, was er den Burschen angetan hatte. Irgendwie wollte er das unbedingt wieder gut machen.
»Hier ist er nicht«, bemerkte Mallewutz, als unsere Freunde das Feld erreichten.
Die Sonne stand noch hoch am Nachmittagshimmel, aber die Zeit drängte, wollten sie Dralle noch vor Sonnenuntergang finden.
»Ein Versteck sehe ich auch nicht«, meinte Balthasar.
»Dann wäre es ja auch kein Versteck«, bemerkte Kreszenz und bat darum vom Riesen auf dem Boden abgesetzt zu werden. Auch wenn man aus der Höhe einen guten Überblick hatte, so wollte Kreszenz das Ganze von unten betrachten.
»Vielleicht hat er sich hier irgendwo eingegraben?«, mutmaßte er und betrachtete den Ackerboden ganz genau.
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte Balthasar.
»Ich auch nicht«, stimmte Mallewutz mit ein.
»Nur weil man sich etwas nicht vorstellen kann, bedeutet es nicht, dass das nicht möglich wäre«, gab Handan zu bedenken. »Es wäre zumindest ein ziemlich gutes Versteck.«
»Dann solltest Du aber hier am Feldrand stehen bleiben«, meinte Balthasar. »Ansonsten würdest Du unseren Dralle ungewollt zertreten. Das fände ich ein ziemlich blödes Versteck.«
Kreszenz dachte angestrengt nach. Immer wieder ging er in Gedanken durch, was er alles mit seiner Bande dem jungen Dralle an den Kopf geworfen hatte. Plötzlich konnte er nachfühlen, was Dralle fühlte bei ihrer Begegnung. Ein stechender Schmerz bohrte sich tief in sein Herz. Verzweiflung machte sich breit und auf einmal stieg in Kreszenz eine Ahnung auf, die langsam zur Gewissheit wurde.
Inzwischen hatten sich auch Mallewutz und Balthasar am Boden absetzen lassen. Sie schauten sich nach allen Seiten um, aber das große Feld war leer. Weit und breit keine Spur von ihrem Freund Dralle.
»Ich weiß, wo Dralle ist«, sagte Kreszenz. Er erntete ungläubige Blicke. – »Woher willst ausgerechnet Du das wissen?«, fragte Mallewutz. – »Das weiß ich nicht«, antwortete Kreszenz. – »Siehst Du, er weiß es nicht«, sagte Handan. – »Doch, er weiß es, aber er weiß nicht, woher er es weiß«, bemerkte Balthasar. – »Du glaubst ihm doch nicht etwa?«, fragte Mallewutz, der noch ein klein wenig Argwohn hegte gegen den frischgebackenen Freund. – »Ehrlich, ich möchte Euch wirklich helfen, Euren Freund wieder zu finden. Und ich weiß, wo wir Dralle finden können. Wir müssen sofort zurück zur Veranda und den anderen Bescheid geben.«
Tja, liebe Kinder, und Ihr müsst Euch jetzt sofort auf den Weg machen, denn das Traumland hat wieder seine Pforten geöffnet. Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«