Das Adlerbaby
»Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag!«
Dann lasst uns diesen mit einer schönen Gutenachtgeschichte beschließen. Zuerst müsst Ihr aber ins Bett. Ihr wisst doch, das ist der Ort, wo Gutenachtgeschichten am besten klingen. Also …, deckt Euch wieder gut zu und macht es Euch so richtig gemütlich. Danach schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, denn unser Öseblöm erzählt gerade von seiner großen Reise …
»Da wäre ich auch nicht länger geblieben«, stellte Balthasar fest.
Auch die anderen Burschen fanden, dass sie sich an Öseblöms Stelle ebenfalls auf die Suche nach den Eltern gemacht hätten.
»Und wie ging es dann weiter?«, wollte Mallewutz wissen.
»Das erfahrt Ihr morgen Abend«, antwortete Öseblöm. »Ich denke, es ist Zeit, ins Bett zu gehen.«
Kreszenz stand auf und verabschiedete sich. Er wollte diesmal daheim, in seinem Bett, zuhause bei seinen Eltern schlafen.
»Darf ich morgen wiederkommen?«, fragte er noch.
»Aber natürlich kommst Du!«, rief Balthasar.
Damit beendeten die Freunde den Tag. Es folgten viele solcher Tage. Tagsüber gingen Mallewutz und Balthasar zur Schule und die Burschen Kalle, Malle und Dralle arbeiteten auf dem Feld. Öseblöm verschwand regelmäßig, um etwas zu erledigen und kehrte immer rechtzeitig gegen Abend zurück. Der Zwerg Dalin erholte sich zusehends und kümmerte sich tagsüber um das Haus, räumte ein wenig auf und füllte jedes Zimmer … mit Liebe. So wurde das Burschenhaus immer heimeliger und behaglicher.
Am nächsten Abend kamen also wieder alle zusammen und unser Öseblöm erzählte …
»Ich packte also meine Sachen und verließ mein Dorf in den frühen Morgenstunden, noch bevor die Sonne aufging.«
»Welche Richtung hast Du gewählt?«, fragte Malle.
»Nun, ich hielt mich erst einmal Richtung Süden. Da ich keinen Anhaltspunkt hatte, wo ich meine Eltern suchen sollte, erschien mir eine Richtung so gut, wie die andere. Am einfachsten war es für mich, den großen Fluss entlang zu wandern. So kam ich ganz gut voran.«
»Hattest Du genug zu essen mit?«, fragte Kalle.
»Oh ja, mein Rucksack war prall gefüllt und außerdem hatte ich ja meinen Bogen dabei. So konnte ich zur Not auf die Jagd gehen.«
»Und dann hast Du jeden Tag ein Abenteuer erlebt?«, fragte Kreszenz, der ganz wild darauf war, mehr von den außergewöhnlichen Geschichten zu hören.
»Nein, nein«, schüttelte Öseblöm seinen Kopf. »Es gab viele Tage, da passierte nichts, wenn man einmal von ein paar Begegnungen mit mehr oder weniger freundlichen Menschen absieht. Es gab aber auch Tage, da war ich mit mir und der Welt allein. An solchen Tagen war die Sehnsucht nach meinen Eltern besonders groß.«
»Und wann hattest Du Dein erstes Abenteuer?«, wollte Kalle wissen.
»Nach drei Tagen«, antwortete Öseblöm. »Genaugenommen nach drei Tagesreisen.«
»Naja, ohne Wanderstiefel konntest Du ja noch nicht so weit weg sein, oder?«, überlegte Kalle.
»Wie weit kannst Du denn an einem Tag marschieren?«, fragte Öseblöm den ältesten der Burschen.
»Oh, ich kann eine ganz schöne Strecke schaffen, wenn ich keine Pause einlege.«
»Nun gut,« erwiderte Öseblöm, »dann war ich also drei ganz schöne Strecken von Öseblömhausen entfernt!«
Die Burschen lachten, unterbrachen unseren Öseblöm aber nicht mehr, denn jetzt wollten sie wissen, was dann passierte.
»Am Morgen des vierten Tages erreichte ich einen kleinen Wald. Kein Mensch hatte ihn je berührt, denn es gab weder Wege die hinein oder herausführten. Eigentlich wollte ich um diesen Wald einen Bogen machen, aber während ich so am Waldrand entlangstreifte, hörte ich aus dem Inneren ein leises Jammern. Es klang erbärmlich und war wirklich herzzerreißend.«
Die Burschen hingen nun an Öseblöms Lippen. Nur Dalin saß in seinem Schaukelstuhl und schien zu schlafen.
»Ich nahm mir einen Stock und schob ein paar Büsche beiseite«, fuhr Öseblöm fort. »Dann betrat ich den Wald. Es war nicht leicht, das Jammern auszumachen. Manchmal war es gar nicht mehr zu vernehmen. Irgendwie schien es leiser zu werden, dann wieder war es als lautes Wimmern zu hören. So ging ich tiefer und tiefer in den Wald und folgte diesem kläglichen Ruf.«
»Dann sah ich es! Am Fuße eines riesigen Baums lag ein kleines Federbündel auf dem Waldboden und wimmerte vor sich hin.«
»Ein Federbündel?«, fragte Balthasar und biss sich auf die Lippen. Eigentlich wollte er seinen Freund nicht mehr unterbrechen.
»Ja«, antwortete Öseblöm. »Zumindest sah es auf den ersten Blick so aus. Ich bückte mich danach und hob es vorsichtig auf. Es handelte sich um ein kleines Adlerbaby, das offensichtlich aus seinem Nest gefallen war. Hier unten, am Waldboden, hatte es keine Chance gegen die wilden Tiere.« – »Und was hast Du dann mit dem Adlerbaby gemacht?«, fragte Kreszenz. – »Tja, ich wollte dem Baby ja gerne helfen, aber das war gar nicht so einfach.«
Für Euch, liebe Kinder, ist es jetzt wieder an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«