Filius Verschwindibus
»Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag?!«
Dann lasst uns diesen jetzt beschließen mit einer schönen Gutenachtgeschichte. Liegt Ihr bereits in Eurem Bett? Sind Eure Augen schon geschlossen …? Dann müsst Ihr nur noch Eure Ohren spitzen, denn wir begeben uns nun erneut zur gemütlichen Veranda unserer fünf Burschen und ihrer Freunde, die wie gebannt den Abenteuerberichten unseres Herrn Öseblöm lauschten …
Die Kerzen auf dem großen Tisch flackerten im sanften Abendwind und auf der Veranda wurde es wieder still. Unsere fünf Burschen freuten sich auf das nächste Abenteuer. Dalin, der Zwerg, saß wie immer in »seinem« Schaukelstuhl und lauschte aufmerksam, aber mit geschlossenen Augen und Kreszenz, der Sohn des Bürgermeisters, saß zwischen Balthasar und Mallewutz und war dankbar für all die neuen Freunde in seinem Leben.
»Nachdem ich also gemerkt hatte, dass das große Flüstern außerhalb des Waldes nicht so wirkte, wie ich es erhofft hatte …«, begann Öseblöm.
»Wie konntest Du das merken?«, unterbrach ihn Kalle. »Du warst doch gar nicht in unserem Dorf!«
»Das stimmt«, erklärte Öseblöm. »Aber es kamen die seltsamsten Wesen in den Wald und erzählten die unglaublichsten Geschichten. Zum Beispiel von Alten, die unsichtbar gestorben sind und viel wirres Zeug. Der Anführer des Waldvolkes bat mich zu sich. Er hatte bereits geahnt, dass ich es war, der mit dem großen Flüstern die Regeln verletzte.
»Das wird noch eine Weile so weiter gehen«, erläuterte er mir. »Dann wird es abebben und schließlich wird nur noch eine seltsame, nebulöse Geschichte in den Erinnerungen der Menschen zurückbleiben. Vielleicht wird aber auch eine ungewöhnliche Legende entstehen …«
Schließlich warnte er mich: »Sei auf der Hut, mein Freund. Du könntest Deine Eltern damit in Gefahr bringen.«
Unsere Freunde saßen mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen und hingen an Öseblöms Lippen. Keiner wagte es, den Wanderer mit einer weiteren Frage zu unterbrechen.
»Wieso in Gefahr?«, fragte ich. »Was ist mit meinen Eltern? Wo sind sie jetzt? Was weißt Du über sie?« Der Flüsterer aber lächelte mich nur an. »Es wird Zeit für Dich, dass Du Dich auf den Weg machst. Auf DEINEN Weg, mein Freund. Ich kann Dir im Moment nicht mehr sagen. Du bist uns jederzeit willkommen, aber jetzt LEBE WOHL.«
»Kaum hatte der Flüsterer diese Worte gesprochen, verschwand das Waldvolk vor meinen Augen. Sie wurden alle wieder eins mit den Bäumen. Obwohl ich wirklich sehr gut sehen kann, hier konnte ich nichts weiter erkennen, als einen gewöhnlichen Wald voller Bäume.«
»Also machte ich mich auf den Weg, auf MEINEN Weg, wie der Flüsterer es gesagt hatte. Ich verließ den Wald und zog weiter, Richtung Süden, der Mittagssonne entgegen. In meinem Rucksack fand ich genügend Proviant für ein paar Tage und so zog ich frohen Mutes weiter.«
»Während der nächsten Tage verlief die Reise wieder etwas einsam. Es war eine weite Landschaft, grüne und saftige Wiesen, hier und da ein paar kleine Seen, aber keine Menschensiedlung weit und breit.«
»Das muss sehr einsam sein, da draußen«, bemerkte Balthasar, der sich vorstellte, wie er sich wohl fühlen würde, auf so einer Reise.
»Schon«, sagte Öseblöm. »Aber ich konnte mich ja mit den Pflanzen und Tieren unterhalten.«
»Dann warst Du ja nicht allein«, stellte Kalle fest.
»Allein nicht«, entgegnete Öseblöm. »Doch auch unter Pflanzen und Tieren finden sich recht einfältige Gesellen, und nicht alle sind freundlich gesonnen.«
»Wie dem auch sei, gerade als mein Proviant zu Ende ging, erreichte ich den Rand einer kleinen Siedlung. Sie lag inmitten in einer weiten Ebene, nicht sehr groß, kleiner als Euer Dorf hier.«
»Und dort brauchtest Du Dein Seil?«, wollte Kalle wissen. Der Bursche konnte sich einfach nicht vorstellen, sein eigenes Seil jemals fortzugeben.
Öseblöm nickte nur und erzählte weiter.
»Normalerweise wird mein Kommen immer bemerkt, denn schließlich sehen Öseblöms einfach anders aus als Menschen.«
Die Burschen grinsten nur und nickten zustimmend.
»Aber an diesem Tag war das nicht so. Ich kam also über die Hauptstraße in das kleine Dorf, doch niemand bemerkte mich. Zwar herrschte große Aufregung in der Siedlung, allerdings hatte das nichts mit mir zu tun. Alle Bewohner liefen durcheinander und riefen immer »Filius …!«
»Filius?«, wiederholte Kreszenz fragend.
»Ja«, antwortete Öseblöm. »Einige riefen sogar »Filius … Verschwindibus …«. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, bis mich eine freundliche ältere Dame ansprach: »Hast Du unseren Filius gesehen?« Ich schüttelte nur den Kopf, denn weder wusste ich, wer Filius war, noch hatte ich ihn jemals zuvor gesehen. »Er spielt wieder Verschwindibus!«, rief ein älterer Bewohner, der gemütlich auf einem Stuhl vor seinem Haus saß. Er beteiligte sich offensichtlich nicht an der Suche. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, ihn anzusprechen und zu fragen. Also stellte ich mich, höflich wie ich bin, erst einmal vor. »Guten Tag, mein Herr«, sagte ich. »Mein Name ist Öseblöm, von Öseblömhausen, Öseblöm. Ich bin auf der Wanderschaft und suche …«
»Was immer Du suchst, junger Mann«, antwortete der Alte. »Hier wirst Du nichts finden, es sei denn, Du weißt, wo unser Filius ist! Ohne Filius, geht gar nichts, verstehst Du?«. »Ich nickte freundlich, obwohl ich überhaupt nichts verstand. Wer oder was auch immer Filius war, er oder es war allem Anschein nach verschwunden und der Grund für diese große Aufregung im Ort …«
Für Euch, liebe Kinder, ist es jetzt aber an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«