Karuns Geheimnis
»Hattet Ihr einen schönen Tag?«
Dann wollen wir jetzt auch für einen schönen Abend sorgen. Das gelingt am allerbesten mit einer wirklich guten Geschichte – einer zauberhaften Gutenachtgeschichte. Also hüpft nun ganz schnell ins Bett, deckt Euch gut zu und dann kann es auch schon losgehen. HALT! Zuerst müsst Ihr noch Eure Augen schließen und natürlich die Ohren spitzen …
»Taubes Ohr!«, lachte Kalle noch immer.
»Leuchtendes Auge!«, musste auch Betty lachen.
Die Kleine hatte sich wieder umgedreht und hatte völlig vergessen, dass sie eigentlich beleidigt war.
»Es wird alles gut«, sagte der Busch und leuchtete wie ein bunter Regenbogen.
»Ihr müsst jetzt wieder zurück. Die Zeit drängt, wenn Ihr Don Carlos noch helfen wollt …«
Kalle war etwas verwundert, dass der einfältige Busch sich so gewählt ausdrücken konnte, aber wo er recht hatte, hatte er recht. Der junge Bursche konnte es fühlen. Eile war geboten, deshalb verabschiedeten sich die beiden und machten sich auf den Rückweg.
»Jetzt müssen wir nur noch Karun treffen«, stellte Kalle fest.
»Nur noch ist gut. Ich hörte, das sei gar nicht so einfach.«
Das kleine Eichhörnchen hatte es sich wieder in Kalles Hemd gemütlich gemacht. Schon bald würden sie den Wald verlassen haben und dann würden Dix und Dax wieder zeigen, was in ihnen steckt. Kalle war ein wenig in Gedanken versunken. Dieser Wald war tatsächlich etwas ganz Besonderes. Noch immer hatte er das Gefühl, als würde jeder seiner Schritte beobachtet. Ja, es ging noch darüber hinaus. Kalle spürte, dass selbst seine Gedanken und Gefühle für diesen Wald wie ein offenes Buch waren.
»Der HERR DES WALDES lässt sich nicht befehlen«, mahnte die kleine Betty.
»Aber vielleicht lässt er sich bitten«, entgegnete Kalle.
Noch immer schritt der Bursche ganz vorsichtig den schmalen Pfad entlang. Nach kurzer Zeit erreichten sie wieder die mächtige Eule, die, wie immer, mit geschlossenen Augen hoch oben auf ihrem knorrigen Ast saß.
»Psst«, flüsterte Betty und bat Kalle ganz leise zu sein.
»Lassen wir sie schlafen.«
»Ich glaube nicht, dass sie schläft …«, flüsterte Kalle zurück.
Dennoch schlich er leise und vorsichtig unter dem Ast hindurch. Kaum hatten sie die Eule hinter sich, ertönte auch schon ihre markante Stimme:
»DU wirst erwartet!«
Kalle erschrak und fuhr herum. Die Eule hatte noch immer ihre Augen geschlossen und rührte sich nicht.
»Wen meinst Du?«, fragte er.
Die Eule schwieg.
»Hast Du das auch gehört?«, fragte Kalle die kleine Betty.
»Was meinst Du?«, fragte das Eichhörnchen zurück.
»Du hast wirklich nichts gehört?«
»Nein«, antwortete Betty. »Ich habe auch nichts gesagt. Und bleib bitte nicht stehen …«
Das Eichhörnchen fand Eulen unheimlich und so wollte sie nicht länger als nötig hier verweilen.
»Taubes Ohr …«, dachte Kalle etwas verwundert und ging langsam weiter.
»DANKE!«, ertönte es aus der Ferne. »ICH BIN BUSCHDANK.«
Kalle lächelte leise. Der Busch schien wieder der Alte zu sein. Etwas einfältig, freundlich und nun auch dankbar. Dann war diese Aufgabe erfüllt. Aber jetzt sollte er versuchen, Karun zu finden.
»Wie macht man das, in einem Wald voller Bäume?«, dachte sich Kalle.
»Hast DU je einen Wald ohne Bäume gesehen?«
Kalle blieb erschrocken stehen. Wer hatte das gefragt. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, dann fuhr er herum. Nichts. Es war nichts zu sehen.
»Wieso glaubst DU, dass DU nichts siehst?«
Wieder diese Stimme. Sie schien keinen klaren Ursprung zu haben. Kalle fühlte sie in seinem Kopf, aber er hörte sie auch mit seinen Ohren.
»KARUN …?«, fragte der Bursche.
»DU hast mich gefunden, mein Freund«, erklang wieder diese Stimme, die von überall zu kommen schien. Der Bursche schaute von Baum zu Baum, aber er konnte nirgends ein Gesicht ausmachen. – »Was suchst DU?«, fragte die Stimme. – »Ich suche Karun, den Baum, den Herrn des Waldes.« – Kalle war noch immer ganz verwundert. – »Ich sagte doch, DU hast mich gefunden«, erklärte die Stimme. »ICH BIN KARUN und ich habe DICH erwartet.« – Kalle verspürte augenblicklich eine Leichtigkeit und Freude, dass es ihm fast das Herz zerriss. Zwar konnte er keinen einzelnen Baum als Karun ausmachen, aber er konnte den HERRN DES WALDES in aller Deutlichkeit spüren. Ganz offensichtlich war Karun weit mehr als ein einzelner Baum …
Für Euch, liebe Kinder, ist es jetzt an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«