Armer Carlos
»Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag.«
Dann lasst uns diesen Tag mit einer noch schöneren Gutenachtgeschichte beenden. Seid Ihr soweit? Die nächste Episode steht bereit. Darum hüpft jetzt ganz schnell in Euer Bett, deckt Euch gut zu und macht es Euch wieder so richtig gemütlich. Nun schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, denn auf unserer Veranda herrscht große Aufregung.
Doch lasst uns noch einen kurzen Blick zurückwerfen. Malle, Mallewutz und Balthasar schauten noch lange ihren Freunden hinterher, während Dalin sich den Staub von seiner Kleidung klopfte und ins Haus verschwand.
»Ich hoffe, sie werden Don Carlos finden«, murmelte Balthasar.
»Das hoffe ich auch«, meinte Malle.
»Und ich hoffe, dass sie alle heil zurückkommen«, ergänzte Mallewutz, der keinen Hehl daraus machte, dass er sich ernsthaft um seine Freunde sorgte.
»„Ihr müsst Euch um Öseblöm keine Sorgen machen!«, rief Dalin, der plötzlich in frischer Montur in der Haustür erschien.
Auf seinem Rücken trug er einen kleinen Rucksack, in seiner linken Hand hielt er einen Wanderstock.
»Was hast Du vor?«, fragte Malle, der überrascht herumfuhr.
»Wo willst Du hin?«, wollte Mallewutz wissen.
»Du willst Du uns doch nicht etwa allein lassen?«, entfuhr es Balthasar. Der kleine Bursche spürte, wie sich langsam seine Kehle zuschnürte.
»Für jeden kommt einmal die Zeit …«, sagte Dalin und schritt langsam die Verandastufen herunter.
»Aber Du bist noch viel zu schwach!«, wandte Malle ein.
»Wer sagt das?«, entgegnete der Zwerg.
»Aber Öseblöm hat doch gesagt …«, stotterte Balthasar, der bald kein Wort mehr herausbrachte.
»Ich habe hier wirklich gute Freunde gefunden«, begann Dalin sich zu erklären. „Aber es drängt mich einfach, weiter zu ziehen. Ich bin nicht dafür geschaffen, sesshaft zu sein. Doch ich komme wieder, ganz bestimmt!«
Damit wollte Dalin sich endgültig verabschieden. Unsere drei Burschen waren viel zu verblüfft, als dass sie dem Zwerg hätten noch irgendetwas entgegnen können. Außerdem wussten sie ja, dass Dalin nur zu Gast war. Was hätten sie schon tun sollen, um ihn aufzuhalten.
»Dann sind wir jetzt ganz allein!«, stellte Mallewutz bitter fest.
Der Zwerg lächelte nur und setzte sich in Bewegung; allerdings kam er nicht weit. Mit einem lauten »Boing« knallte er gegen eine unsichtbare Wand und fiel rücklings zu Boden. Unsere Freunde betrachteten staunend das kleine Schauspiel, das sich ihnen gerade bot.
Der Zwerg rappelte sich auf und setzte von Neuem an, die Veranda hinter sich zu lassen. Aber schon nach zwei Schritten machte es wieder »Boing« und er fiel abermals auf seinen Rücken. Als würde er gegen eine Wand aus Glas laufen, wollte es dem Zwerg einfach nicht gelingen, fortzugehen.
»Du eigensinniger kleiner Zwerg«, ertönte unversehens eine Singsang-Stimme aus dem Nichts. »Ist das Deine Art Dich zu bedanken?«
Dalin lag noch immer auf seinem Rücken und traute seinen Ohren nicht. Aber die Singsang-Stimme sprach unbeirrt weiter: »Öseblöm hat doch ziemlich deutlich gesagt, dass Du uns allen hier am besten hilfst, wenn Du richtig gesund wirst. War an seinen Worten irgendetwas nicht zu verstehen? Und meinst Du vielleicht, ich könnte jedes Mal eingreifen, sobald Du wieder in Schwierigkeiten steckst?«
»Kasran!«, rief Malle und die Burschen strahlten vor Freude.
Der Zwerg hatte sich mittlerweile aufgesetzt und klopfte abermals den Staub von seiner Kleidung. »Verzeiht mir«, sagte er mit gesenktem Blick. »Es steckt einfach in meinem Blut. Ich muss wandern …«
»Sobald Du gesund bist«, entgegnete Kasran. »Aber jetzt, in diesem Augenblick, brauchen wir hier Deine Hilfe, hier bei unseren Freunden auf der Veranda.«
Die Burschen bemerkten sehr wohl, dass das Lichtwesen sie als Freunde bezeichnet hatte.
»Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, sagte Kasran, als auch schon ein dunkles Etwas vom Himmel herabgeschwebt kam. Ganz sanft wurde es auf dem großen Verandatisch abgelegt.
»Don Carlos!«, rief Mallewutz und sprang mit wenigen Sätzen die Verandastufen rauf. Die anderen folgten ihm auf dem Fuße.
»Oh je, Don Carlos …!«, schrie Balthasar vor lauter Bestürzung.
Der einst mächtige Adler vom hohen Berg sah geradezu erbärmlich aus. Dürr und abgemagert, kaum noch Federn und völlig entkräftet lag er auf dem Tisch, bereit für seine letzte Reise.
Dalin war inzwischen ebenfalls auf der Veranda. Seinen Rucksack hatte er auf dem Schaukelstuhl abgelegt und den Wanderstock achtlos am Boden liegen lassen.
»Lasst mich durch!«, gebot er den Burschen, Platz zu machen. Behutsam näherte er sich dem Adler oder besser dem traurigen Rest, der noch von ihm übrig war. – »Kannst Du ihm nicht helfen?«, fragte Balthasar besorgt, denn Don Carlos schien schon nicht mehr ansprechbar. – »Ich weiß es nicht«, antwortete Dalin. – »Ich dachte eher an Kasran«, erklärte der junge Bursche und blickte sich entschuldigend um. Doch das Lichtwesen war nirgends zu sehen. Kein Flimmern in der Luft, kein Regenbogen oder Aufblitzen; wie es schien, war Kasran bereits wieder unterwegs.
Für Euch, liebe Kinder, ist es jetzt an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«