Ein Winzling
»Seid Ihr bereit? Es ist soweit!«
Lasst uns den heutigen Tag mit einer wunderschönen Geschichte beenden. Hüpft dazu ganz schnell in Euer Bett und deckt Euch gut zu. Wir machen es uns nämlich so richtig gemütlich. Achtung …, schließt nun Eure Augen, aber nicht blinzeln! Und anschließend öffnet Eure Ohren. Gebt gut acht, denn wir wollen wieder unsere Freunde auf der Veranda besuchen, die …
… gerade alle zusammen vor einem ganz großen Problem stehen.
»Du schaust ja furchtbar aus«, bemerkte Bauer Rums als er den abgemagerten Adler auf dem Schaukelstuhl betrachtete.
Don Carlos reagierte nicht. Die Suppe hatte ihm gutgetan und jetzt schlief er erst einmal. Kraftlos gab er sich allem hin, was da kommen wollte. Nur eines stand für ihn fest: Er wollte niemals mehr etwas fressen, das freundlich zu ihm war.
Anton Rums hatte als Bauer schon viel erlebt. Alle möglichen und unmöglichen Krankheiten seiner Tiere bescherten ihm zwar manch schlaflose Nacht, aber letztendlich konnte er ihnen immer helfen, fast immer jedenfalls. Sogar seine Kuh, die plötzlich ein Rennpferd sein wollte, lebt nun wieder als glückliche Milchkuh auf seinem Hof.
»Das wäre doch gelacht«, sagte er und beugte sich zu Don Carlos herunter. Dann packte er vorsichtig den immer noch großen Adler und lud ihn auf seinen Arm.
»Ich denke, ich nehme unseren Freund jetzt mit zu uns auf den Hof«, sagte er. »Mama Rums hat sicher schon alles vorbereitet und wir sollten wirklich keine Zeit verlieren. Bist Du sicher, dass er auch ohne Halstuch mit uns reden kann?«
Unser Öseblöm nickte nur still, dabei hielt er sein Halstuch in den Händen und schien nachzudenken. Die kleine Pimpinelle hatte sich derweil zu ihm gesellt.
»Könnte ich vielleicht das Halstuch bekommen?«, fragte sie und schaute ein wenig verlegen drein.
»Wozu möchtest DU denn dieses Halstuch haben?«, wollte Balthasar wissen. »Mal abgesehen davon, dass es ein sehr schönes Halstuch ist. Aber meinst Du nicht, dass dies eine Nummer zu groß für Dich, äh, für uns, ist.«
Balthasar kam ins Stottern. Dem jungen Burschen wurde mit einem Mal klar, welch eine Bürde dieses Halstuch sein konnte. Plötzlich kann man mit allen reden und alle verstehen – alle Tiere, egal ob groß oder klein, ganz gleich ob harmlos oder gefährlich und sogar jeden Baum, jede Pflanze und jede noch so kleine Blume.
»Wird einem da nicht wirr im Kopf?«, fragte er ganz unvermittelt und unterbrach mit der Frage seine eigenen Gedanken.
»Wie meinst Du das?«, entgegnete Öseblöm, der sehr gut nachfühlen konnte, wie es in seinem jungen Freund aussah.
»Na ja«, erklärte Balthasar. »Wenn man ständig alles und jeden reden hört …, hat man da nicht ein lautes Rauschen im Kopf?«
Der Wanderer lachte laut, nickte dabei allerdings zustimmend.
»So kann man es auch beschreiben«, antwortete er. »Zwar habe ich es noch nie so empfunden, aber Du hast recht. Irgendwie ist es tatsächlich ein ständiges Rauschen und Dröhnen.«
»Dann wundert mich nicht, dass unser Don Carlos Probleme bekommen hat«, murrte Mallewutz, der auch gerne das Halstuch gehabt hätte. Dieser heimliche Wunsch blieb allen verborgen, bis auf den kleinen Balthasar. Der jüngste der fünf Burschen blickte seinem Freund tief in die Augen und verstand, auch ohne Worte.
»Lass uns nun gehen, Pimpi!«, rief Anton Rums.
Der Bauer war schon die Verandatreppe herunter und ging nun los, ohne sich groß zu verabschieden. Pimpinelle rannte hinter ihm her und winkte den Freunden noch einmal zu.
»Soll ich Euch wieder tragen?«, fragte Handan, richtete sich ein wenig auf und bot seine Hilfe an.
Der Bauer jedoch schüttelte nur deutlich sichtbar seinen Kopf.
»Nein, nein«, sagte er. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich glaube, wir kommen so ganz gut voran. Und so schwer ist unser Freund hier auch nicht mehr …«
»Aber ich helfe Euch gerne!«, rief der Riese dem Bauern und seiner Tochter nach. »Sogar sehr gerne!«
Öseblöm runzelte seine Stirn und fragte:
»Gibt es etwas, das wir wissen sollten, mein Freund?«
»Mmh«, machte der Riese.
»Kreszenz?«, fragte Öseblöm.
»Wir haben erfahren, dass es noch mehr Riesen gibt«, erklärte Kreszenz.
»Noch mehr Riesen?!«, wiederholten alle Gefährten wie aus einem Mund.
»Ja und sogar noch viel Größere. Handan scheint da wohl ein Winzling zu sein …« – Sprachlose Stille herrschte auf der Veranda. Dalin, der Zwerg, fingerte nervös an seiner Gabel herum. Die anderen saßen oder standen wie erstarrt. – »Noch größere Riesen?«, wiederholte Kalle die Worte, die alle zum Schweigen brachten. »Aber das bedeutet …; das bedeutet …«, Kalle kam nicht weiter. Seine Gedanken überschlugen sich. Mit einem Mal war die Welt um einiges größer geworden.
Für Euch, liebe Kinder, ist es nun an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«