Das Halstuch
»Es ist soweit! Seid Ihr bereit?«
Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Tag. Dann lasst uns diesen Tag mit einer kleinen Geschichte ausklingen. Hüpft also ganz schnell in Euer Bett, deckt Euch gut zu und macht es Euch wieder so richtig gemütlich. Nun schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, denn wir reisen jetzt zur Veranda unserer fünf Burschen, die alle zusammen gerade ein wenig nachdenklich wirken.
»Es gibt noch mehr Riesen«, murmelte Kalle. Der Bursche versuchte sich auszumalen, was das zu bedeuten hat.
»Ist das gut oder ist das schlecht?«, wollte Mallewutz wissen. »Ich meine, sind das gute oder böse Riesen?«
»Böse Riesen wäre gar nicht gut!«, brummte Dalin, der es sich wieder auf »seinem« Schaukelstuhl gemütlich gemacht hatte.
Auch unser Öseblöm war nachdenklich geworden. Still saß er auf der Bank und schaute zum Horizont. Es waren viele Fragen, die ihm durch den Kopf gingen.
»Es gibt keine bösen Riesen«, warf nun Handan ein. Der Riese aus Wurzelbruck kannte die Angst in den Gesichtern der Menschen und er wollte nicht, dass seine Freunde sich fürchteten.
»Das werden wir wohl erst wissen, wenn wir ihnen begegnen.«
Kalle sprach laut aus, was alle in diesem Augenblick dachten.
»Wir sind bis heute noch keinem Riesen begegnet, wieso sollte das ausgerechnet jetzt passieren?«, warf Malle ein.
Alle schauten verwundert auf den Burschen.
»Und was ist mit Handan?«, fragte Balthasar.
»Handan ist etwas anderes. Handan ist unser Freund!«
»Aber er ist doch ein Riese, oder sehe ich das falsch?«, widersprach Kreszenz.
»Du hast selbst gesagt, Handan ist ein Winzling«, verteidigte sich Malle, der sich plötzlich von allen unverstanden fühlte.
»Lasst uns nicht streiten«, ging Mallewutz dazwischen und versuchte, die aufkommende Diskussion im Keim zu ersticken. »Mich interessiert vielmehr, was jetzt mit dem Halstuch geschieht.«
»Was sollte denn mit MEINEM Halstuch geschehen?«, fragte Öseblöm verwundert. »Es gehört doch immer noch mir, oder etwa nicht?«
»Das schon …«, druckste Mallewutz ein wenig vor sich hin. Dabei rutschte er auf der Bank verlegen hin und her. Nur allzu gern hätte er das Halstuch getragen.
»Das Halstuch bringt nur Unglück!«, knurrte Amira. Die Adlerdame schien wirklich sauer zu sein.
»Dann sollte ich es vielleicht auch nicht mehr tragen«, stellte Öseblöm fest.
»Ja, das Beste ist, Du läufst nackt herum, das bringt am wenigsten Unglück«, brummelte Balthasar. »Und noch besser, fass nichts mehr an …«
»Jetzt übertreibst Du aber«, murrte Amira. »Du weist genau, was ich meine.«
»Nicht jedem ist es gegeben, solche Fähigkeiten zu tragen«, ergänzte nun Ralle, der sich mittlerweile zu Amira gesellt hatte. Die beiden wirkten wie ein ungleiches, aber unzertrennliches Paar.
Unser Öseblöm hielt sein Halstuch in Händen und schien nachzudenken. Tatsächlich spürte er in alle Anwesenden hinein. Innerlich betrachtete er jeden einzelnen seiner Freunde und fragte sich, wer von ihnen wohl fähig wäre, sein Halstuch zu tragen. Schließlich wollte er nicht noch einmal so eine Katastrophe erleben, wie die mit Don Carlos. Sollte er dieses Halstuch überhaupt noch einmal jemandem schenken?
»Also ich könnte mit dem Unglück schon leben«, flüsterte Mallewutz. »Schließlich kann ich auch ohne Fleisch leben.«
Der Wanderer schaute dem kleinen Mallewutz tief in die Augen, dann schüttelte er unmerklich seinen Kopf. »Das ist keine gute Idee, mein Freund«, antwortete er.
Plötzlich spürten alle den seltsamen, geheimnisvollen Hauch, der ihren Freund Öseblöm umgab. Vinidi Öseblöm, der Wanderer aus einem fernen Land; noch vor nicht allzu langer Zeit nur ein freundlicher Fremder, war nun ein geheimnisvoller Freund.
»Ja willst Du das Halstuch überhaupt jemandem von uns geben?«, fragte Kalle, der sich auch schon so seine Gedanken machte. »Vielleicht,« so dachte der Bursche, »werden wir alle noch gebraucht, um Öseblöms Eltern zu finden. Vielleicht war es ja gar kein Zufall, dass wir uns gefunden haben …«
Was Kalle nicht wusste: Unser Öseblöm hatte ähnliche Gedanken. Vielleicht sollte alles so sein und es wäre ja möglich, dass allen Freunden eine besondere Aufgabe zukommen könnte.
»Du denkst zuviel!«, unterbrach Dalin die unausgesprochenen Gedanken. »Entscheide Dich einfach.« Und nach einer kurzen, bedeutungsvollen Pause … »JETZT!«
In diesem Augenblick erhob sich der Wanderer. Mit einem kurzen Kopfnicken bedankte er sich bei Dalin. Dann nahm er sein Halstuch und überreichte es Malle.
»Geh sorgsam damit um, mein Freund.« Mit diesen Worten legte Öseblöm dem völlig überraschten Malle das Halstuch um die Schulter. – »Aber ich, ich, ich kann doch nicht …«, stammelte Malle, der immer noch nicht wusste, wie ihm geschah. »Warum ich?«, fragte er schließlich, nachdem sich seine erste Aufregung gelegt hatte. – Unser Wanderer aber lächelte nur geheimnisvoll und setzte sich wieder auf seinen Platz, trank einen Schluck von seiner Limonade und grinste sichtlich zufrieden.
Für Euch, liebe Kinder, ist es nun an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«