Entfesselt
»Es ist soweit! Seid Ihr bereit?«
Dann lasst uns den heutigen Tag, wie immer, mit einer wunderschönen Gutenachtgeschichte beenden. Krabbelt jetzt ganz schnell in Euer Bett und deckt Euch gut zu. Macht es Euch wieder so richtig kuschelig. Die Sonne wird gleich aufgehen und ihr könnt mir glauben, unsere Freunde haben nicht sehr gut geschlafen. Bis auf Öseblöm …
Amira hatte die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Erst jetzt, in den frühen Morgenstunden, fiel sie endlich in einen tiefen Schlaf. So bemerkte sie nicht mehr, wie Öseblöm schon kurz vor den ersten Sonnenstrahlen erwachte.
Unser Wanderer spürte den kräftigen Ast in seinem Rücken. Zuerst blinzelte er vorsichtig, dann richtete er sich langsam auf. Am Horizont ließen sich die ersten Lichtstrahlen der Morgensonne bereits erahnen. Heute würde er seine Stiefel bekommen, da war er sich ganz sicher. Und seinen Freund Handan würde er natürlich auch befreien. Nur die Reihenfolge durfte er nicht vergessen.
»Psst«, rief er leise und stupste zärtlich die mächtige Adlerdame gegen ihren Bauch. Amira rührte sich nicht. Sie schlief tief und fest. Schließlich hatte sie ja auch die ganze Nacht über Wache gehalten.
»Psst, aufwachen, alte Freundin.«
Diesmal wiederholte Öseblöm seinen Versuch etwas lauter und drängender.
»Alt?«, knurrte Amira zurück. »Wer ist hier alt?«
Ihr Kopf steckte noch immer rücklings in den Federn und sie machte keinerlei Anstalten aufzustehen, geschweige denn sich für die anstrengende Reise vorzubereiten. Ein Adler muss sich ja auch nicht groß vorbereiten, aber Öseblöm war schon ein bisschen verwundert.
»Willst Du nicht unseren Freund befreien?«
»Unserem Freund geht es gut …«, entgegnete Amira. »…vermutlich.«
Unser Abenteurer schmunzelte.
»Und was ist mit dem Apfelsalat?«
Jetzt hob die Adlerdame ihren Kopf aus den Federn empor, plusterte sich kurz auf und schüttelte sich danach kräftig.
»Also gut«, sagte sie, »dann befreien wir jetzt Handan, bevor sie ihn den Äpfeln servieren.«
»Häh?«, stieß Öseblöm hervor. »Hab ich etwas verpasst?«
»Schon gut«, sagte Amira. »Aber ich denke, Du hast den gleichen Verdacht, nicht wahr.
Jetzt verstand unser Öseblöm. Er lächelte still in sich hinein.
»Lass uns aufbrechen«, schlug er vor. Mit diesen Worten kletterte der Wanderer wieder auf den Rücken seiner treuen Freundin. Mit wenigen Flügelschlägen erhob sich die Adlerdame wieder in die Lüfte. Erneut gewann sie rasch an Höhe. Nach einer Weile ging sie in ihren kreisenden Flug über, um sich von den Winden emporheben zu lassen, bis sie schließlich die majestätischen Wipfel des hohen Berges erreichten.
Zu gleichen Zeit saßen Malle und Ralle auf der Veranda und frühstückten ihr zweites Frühstück. Mallewutz und Balthasar hatten sich nur mit Mühe überreden lassen, in die Schule zu gehen. Aber Malle hatte natürlich recht, als er sagte, dass sie hier sowieso nichts ausrichten könnten.
Dabei war Balthasar am schwersten zu überzeugen, schließlich war er es, der Kontakt zu Handan hatte. Doch nach kurzem Streit gab der kleinste der fünf Burschen nach. Er musste nämlich betrübt zugeben, dass er seit dem Aufwachen keinen Kontakt mehr zu dem Riesen aus Wurzelbruck fühlen konnte.
»Meinst Du, unser Balthasar hat seine Fähigkeiten verloren?«, fragte Ralle mit vollem Mund. Die beiden rätselten darüber, was wohl über Nacht passiert sei.
Malle schüttelte nachdenklich den Kopf. »Eher nicht«, murmelte er.
»Denkst Du etwa, Handan ist … ?«
»Nein«, unterbrach Malle seinen Freund. »Handan geht es gut.«
»Woher willst Du das wissen?«, fragte Ralle, obwohl er auch dieser Ansicht war. Genaugenommen fühlte er diese Ansicht. Einen klaren Anhaltspunkt oder gar einen Beweis dafür gab es natürlich nicht.
Ralle wusste bereits, dass nicht nur Amira, sondern auch Öseblöm der gleichen Ansicht waren. Das aber behielt der Bursche für sich. Irgendetwas war in der letzten Nacht geschehen. Aber niemand konnte in Worte fassen, was das war.
Während also Malle und Ralle bei einem zweiten Frühstück auf der Veranda saßen, überquerten Amira und Öseblöm die Gipfel des hohen Berges.
»Lass uns in einem Bogen auf das Dorf zufliegen«, schlug Öseblöm vor. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir es nicht überqueren. Ich möchte den Bewohnern ja keine Angst einjagen.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Amira zu. »Es fliegt sich entschieden ruhiger, wenn man nicht ständig irgendwelchen Pfeilen ausweichen muss.«
Öseblöm lachte.
In diesem Augenblick stürmten Mallewutz und Balthasar daheim auf die Veranda zu. »Entfesselt!«, brüllte Balthasar. »Sie haben sie entfesselt.« – Malle verschluckte sich an seinem Tee und prustete. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er. »Ich denke, ihr seid in der Schule.« – »Entfesselt!«, brüllte Balthasar wieder. Der Kleine mochte sich überhaupt nicht mehr beruhigen.
Für Euch, liebe Kinder, ist es nun an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es wieder:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«