Ein fremder Freund …
»Es war einmal …«, so fangen alle Märchen an und so, wie sollte es anders sein, beginnt auch diese Geschichte.
Es war einmal vor langer, langer Zeit. Es geschah vor so langer Zeit, dass sich heute kaum ein Mensch auf der Erde daran erinnern kann und es geschah an einem Ort, der so weit weg ist, dass noch nie ein Erwachsener diesen Ort betreten hat.
Ich selbst hatte als Kind das große Vergnügen, Abend für Abend an diesem fernen Ort spazieren zu gehen und große Abenteuer zu erleben. So kann ich heute darüber berichten.
Schließe also jetzt Deine Augen und hör gut zu, denn dann nehme ich Dich mit auf eine Reise in eine wunderbare Welt…
In einem Dorf, am Rande eines kleinen Hügels, umgeben von einem großen, freundlichen Wald, lebten ein paar Burschen, die noch nie ihr Dorf verlassen hatten. Immerzu träumten Sie von der großen, weiten Welt. So saßen sie jeden Abend nach getaner Arbeit zusammen und erzählten sich Geschichten, die sie sich natürlich nur ausgedacht hatten, denn ein wirkliches Abenteuer hatte keiner von Ihnen bisher erlebt.
An einem solchen Abend also, die Sonne stand schon tief am Horizont, hockten sie wieder zu fünft auf der Veranda ihres kleinen Hauses beisammen und erzählten von unglaublichsten Abenteuern. Erwachsene, die Ihnen zufällig zuhörten, schüttelten einfach nur ihre Köpfe, über so viel Unsinn, der da nur so sprudelte. Einer erzählte doch glatt, dass er vor einer Woche erst die Sonne mit einem Seil eingefangen hätte und immer hinter sich herzog, damit es überall schön hell wäre…
Nun, die Freunde überlegten gerade noch, ob man vielleicht auch den Mond einfangen könnte, als sich vom Waldrand her eine kleine Gestalt unbemerkt der Veranda näherte. Der Fremde war eine gar seltsame Erscheinung. An den Armen und Beinen behaart, ein paar praktische Wanderstiefel an den Füßen und einen grünen Jägerhut auf dem Kopf, schien es doch tatsächlich so, als hätte er einen kräftigen Schwanz, der mit jedem Schritt leicht gebogen in der Luft wippte.
Aber, wie schon gesagt, unsere fünf Burschen bemerkten ihn gar nicht.
»Braucht man eigentlich ein längeres Seil, um den Mond einzufangen, als für die Sonne?« fragte der Kleinste von ihnen mit tiefer Stimme. »Mmh«, entfuhr es den anderen fast gleichzeitig, und sie rätselten darüber, ob der Mond vielleicht weiter weg sein könnte, als die Sonne. Zumindest schien er ja sehr viel größer zu sein.
Unseren fünf Abenteurern fiel auch nicht auf, dass sie bereits seit längerem beobachtet wurden. Ein mächtiger Adler zog seit geraumer Zeit in großer Höhe seine Kreise und hatte die jungen Burschen dabei fest im Blick.
Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, stürzte er sich pfeilschnell in die Tiefe und setzte zum Angriff an. Rasend schnell kam er näher. Die Flügel eng an den Körper angelegt wurde der große Raubvogel immer schneller. Der riesige Adler hatte sich den Kleinsten der Gruppe zum Ziel auserkoren.
»Könnte es sein, dass der Mond gar nicht so groß ist, wie er aussieht?« fragte der Größte aus der Gruppe mit hoher Stimme. »Mmh«, ertönte es wieder fast gleichzeitig. Unsere Freunde waren viel zu vertieft in diese Fragen, als dass sie die große Gefahr bemerkt hätten. Der Adler rauschte heran, breitete seine mächtigen Schwingen aus und wollte blitzschnell den Kleinsten der Gruppe mit seinen scharfen Klauen ergreifen. Jetzt erst sahen die Burschen den Adler, der wie ein riesiger Schatten auf sie herabstürzte. Die fünf Freunde erschraken, aber es war schon zu spät. Die Klauen des Adlers waren nur noch eine Handbreit von ihrer Beute entfernt.
Doch es sollte anders kommen.
Der geheimnisvolle Fremde war mittlerweile bis an die Veranda herangekommen. Mit seinen klugen Augen hatte er den Adler schon lange kommen sehen. Ruhig und mit einem milden Lächeln nahm er seinen Bogen von der Schulter, zog einen langen, extra spitzen Pfeil aus dem Köcher und nahm damit den Adler ins Visier. Kurz bevor nun der Adler den Kleinsten der fünf Freunde ergreifen konnte, schoss der Fremde… und traf mit seinem extra spitzen Pfeil den Adler in dessen Popo!
Der Adler jaulte auf vor Schmerz und drehte sofort ab.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Burschen verstanden, was geschehen war. Dieser seltsame Fremde hatte ihnen das Leben gerettet!
»Wer bist Du, Fremder?« fragte der Größte von Ihnen, nachdem er sich von dem Schrecken ein wenig erholt hatte.
»Ich bin Öseblöm«, erklärte der Bogenschütze, dann zog er seinen Hut und verneigte sich mit schwungvoller Geste zur Begrüßung, »Öseblöm – von Öseblömhausen, Öseblöm!«
Und mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu: »Ihr dürft Euch ruhig bedanken.«
Könnt Ihr Euch die verblüfften Gesichter der fünf Burschen vorstellen? Öseblöm, ein sehr seltsamer Name – und irgendwie ahnten die Freunde, als sei mit Öseblöm ein Hauch von Abenteuer in ihr friedliches Dorfleben getreten. Damit sollten sie wohl Recht behalten.
Aber nun heißt es erst mal »Gute Nacht und schlaft recht schön«.