Der Zauberwald
»Nun, seid Ihr bereit für eine kleine Legende?«
Dann wisst Ihr ja schon, was Ihr zuerst zu tun habt. Wenn Ihr bettfertig seid, schlüpft unter die Decke, schön kuscheln, Augen zu und Ohren auf, denn unser Öseblöm erzählt nun die Legende vom Zauberwald …
Es gab noch so viel zu erzählen und zu berichten, aber jetzt wollten alle die Legende vom Zauberwald hören.
»Wie kann es sein, dass wir noch niemals von einem Zauberwald gehört haben?«, fragte Balthasar, der sich wieder etwas beruhigt hatte.
»Auch Legenden können in Vergessenheit geraten«, erklärte Öseblöm und drückte Balthasar noch einmal ganz herzlich an sich. Dann begann er zu erzählen …
»Vor langer, langer Zeit, als Menschen noch freundlich waren und friedlich miteinander umgingen …«
»Wir sind immer friedlich und freundlich«, unterbrach Kalle unseren Wanderer.
»Das habe ich wohl gemerkt«, warf nun Don Carlos ein und deutete mit einem Flügel auf seine zwei Beulen an seiner Stirn.
»Könnt Ihr nicht ruhig sein,« schimpfte Dralle, »so kann Öseblöm ja nie erzählen.«
»Entschuldigung«, sagte Kalle und war sogleich wieder ruhig und aufmerksam.
Don Carlos rieb sich noch ein wenig seine Beulen, aber er sagte auch nichts mehr.
»Also noch einmal von vorn«, begann Öseblöm von neuem …
»Vor sehr langer, langer Zeit …, der Legende nach vor vielen tausend Jahren, gab es einen Baum. Dieser Baum war kein gewöhnlicher Baum. Er war dunkel, mächtig und groß, mit unzähligen Ästen und Zweigen, aber völlig kahl. Kein einziges Blatt wollte auf ihm wachsen.
Dieser Baum kannte nur ein Ziel: er wollte zum mächtigsten Wesen unserer Welt werden. Und so wanderte er ziellos umher. Dabei verbreitete er großen Schrecken und Verderben. In seiner Nähe verstummte jeder Vogel. Blumen verloren ihre Farbenpracht, Bäume und Büsche ließen sofort ihre Blätter fallen. Angst eilte ihm voraus, Tod und Trauer ließ er zurück.
Sogar unsere Seen und Flüsse gefroren sofort zu Eis, wenn dieser Baum auch nur seine Wurzeln hineinsteckte. So hinterließ dieser Baum auf seinem langen Weg eine riesige Spur der Zerstörung. Freunde konnte er nicht finden, denn jeder fürchtete sich vor ihm.
So wurde der Baum immer mächtiger und einsamer.
Eines Tages, auf seiner langen Suche nach Macht, stand er wieder an einem kleinen See. Er wollte einen Schluck Wasser trinken; doch als er seine Wurzeln in das erfrischende Nass hineingleiten ließ, gefror der See, wie alle Seen, sofort zu Eis.
So verharrte dieser Baum an jener Stelle und rührte sich nicht mehr. Einsam und knochig, ohne Freunde stand er da und all seine Macht hatte ihm nichts weiter eingebracht, als eine innere Leere. Er fühlte sich ausgebrannt und leer.
Doch fand sich niemand, der Mitleid mit diesem Geschöpf gehabt hätte.
Dann, irgendwann, muss etwas seltsames geschehen sein. Niemand weiß genau, was damals geschah, außer vielleicht der Baum selbst. Die einen sagen, ein Rabe hätte sich auf einen der kahlen Äste gesetzt, die anderen wiederum berichteten von einem goldenen Schmetterling, der vor dem Baum herumgetanzt sei. Wie dem auch sei, alle waren sich einig darüber, dass ein seltsamer, aber wunderschöner Regenbogen plötzlich zu sehen war.
Danach hätte der Baum zu singen begonnen …«
»Zu singen?«, stieß Balthasar ganz erstaunt hervor. »Und was hat er gesungen?«
»Er sang immer nur ein Wort: Karun …«, fuhr Öseblöm fort.
»Und dann?«, fragte Balthasar.
»Dann geschah wohl ein Wunder«, erklärte Öseblöm. »Nach einiger Zeit ist der See, an dem dieser Baum stand, aufgetaut. Und da durfte diese Angst einflößende Kreatur zum ersten Mal in ihrem Leben etwas trinken. Was auch immer geschehen war, aber dieser Baum hat ein großes Geschenk erhalten und eine zweite Chance. Denn schon nach kurzer Zeit wuchsen die grünsten Blätter an ihm, die je ein Mensch gesehen hat und er wurde zu einem wunderschönen, mächtigen Baum, der große Liebe verströmte. Dabei sang er immerzu dieses Wort: Karun, denn dies war nun sein Name.
Es dauerte nicht lange, da gesellten sich andere Bäume zu ihm. Diese Bäume erhielten seine Liebe und gaben sie weiter. Und so entstand nach und nach ein großer Wald.
Schließlich hörten die Menschen von diesem Wald und besuchten ihn. Es dauerte nicht lang und sie erkannten sein Geheimnis. Kranke fanden hier Heilung, Schwache wurden wieder stark und die Hoffnungslosen erhielten Mut und Zuversicht.
Dies ist die Geschichte von Karun, dem Zauberwald.«
»Aber warum Zauberwald?«, fragte Balthasar, der von dieser Geschichte tief gerührt war.
»Nun, dieser Wald war sehr mächtig,« erklärte Öseblöm, »und es heißt, dass er wie ein Spiegel wirke für seine Besucher. Hat jemand gute Absichten und ist in seinem Herzen rein, dann ist dieser Wald wohlwollend und heilend. Hat aber jemand böse Absichten …«, Öseblöm erzählte nicht weiter.
»Was ist dann?«, wollte Kalle wissen. – »Dann wird er es ihm gleichermaßen vergelten!«, antwortete Öseblöm mit ernster Stimme. – »Karun«, sagte Amira und erinnerte sich. Dann rief sie voller Überraschung: »Jetzt verstehe ich! Wir waren bereits in diesem Zauberwald. Es gibt ihn also wirklich!« – Unser Öseblöm nickte nur und lächelte still.
Ihr liebe Kinder dürft jetzt auch lächeln, aber seid schön still, denn für Euch heißt es wieder …
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«