Das Zwergenlied
»Die nächste Geschichte wartet auf Euch. Seid Ihr bereit?«
Dann lasst uns nicht länger warten. Deckt Euch wieder gut zu und macht es Euch in Eurem Bett so richtig gemütlich. Jetzt schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, denn wir wollen uns auf die Veranda des Burschenhauses begeben. Dort herrschte große Aufregung …
»Dalin kommt?«, rief Balthasar. Seine Aufregung war größer als sein kleines Herz es fassen konnte. »Und da soll ich in die Schule …?!«
»Aber sicher doch«, antwortete Öseblöm. »Er wird eh erst gegen Abend hier eintreffen.«
Nach dem Frühstück machten sich alle auf den Weg, Mallewutz und Balthasar gingen, wenn auch murrend, zur Schule, Kalle und Malle wollten in der Zwischenzeit auf dem Feld nach dem Rechten sehen.
»Wir sind auch gegen Mittag zurück!«, rief Malle noch, dann verabschiedeten sie sich.
Nachdem Öseblöm und Lavida den Tisch wieder aufgeräumt hatten, steckte Dralle vorsichtig seinen Kopf zur Verandatür heraus.
»Guten Morgen, Dralle«, sagte Öseblöm. »Hast Du gut geschlafen?«
Dralle nickte nur und hockte sich dankbar an den Tisch, wo sein Frühstück noch bereitstand. Traurig blickte er drein.
»Es wird alles gut«, tröstete Öseblöm und nahm den jungen Burschen in den Arm.
Dann erzählte Öseblöm, was hier alles in Dralles Abwesenheit geschehen war, welche Sorgen sie sich gemacht hatten und wie Kalle, Handan und er selbst ein ernstes Wort mit dem Rüpel Kreszenz, aber auch mit den Lehrern gesprochen hatten und dass sie jetzt Freunde geworden seien …
Dralle hörte zu, sprach jedoch kein Wort. Einzig als Öseblöm erzählte, wie Handan auf das Dach des Schulhauses geklopft hatte, huschte ein Lächeln über die Lippen des jungen Burschen.
Gegen Mittag eilten Mallewutz und Balthasar nach Hause. Dralle saß noch immer schweigend auf der Veranda. Die beiden jüngsten fielen dem mittleren der fünf Burschen um den Hals, aber der zeigte keine Regung. Mit traurigem Blick starrte er einfach nur in die Ferne.
»Was ist mit Dir?«, fragte Balthasar.
»Gib ihm etwas Zeit«, riet Öseblöm. »Wir müssen geduldig sein.«
Kurze Zeit später schauten auch Kreszenz und sein Vater vorbei. Sie wollten sich entschuldigen und Dralle um Verzeihung bitten.
Als schließlich Kreszenz junior unserem Dralle seine Hand zur Freundschaft reichte, sah Dralle den Jungen mit traurigen Augen an, nickte kurz und wandte seinen Blick dann wieder in die Ferne.
»Mach Dir keine Sorgen«, tröstete Öseblöm den jungen Kreszenz. »Es wird alles gut. Heute Abend erwarten wir hohen Besuch. Dalin, der Zwerg. Ich bin sicher, sein Lied wird uns allen helfen …«
Kreszenz junior versuchte zu lächeln. Erneut spürte er den Schmerz, den er unserem Dralle zugefügt hatte. Diese Wunde im Herzen war noch nicht verheilt. Das wusste er.
»Darf ich heute hier bleiben, Vater?«, fragte Kreszenz seinen Papa.
Dem Bürgermeister wurde ein wenig flau im Magen, als er vom hohen Besuch hörte. Aber er besann sich schnell: »Wenn wir mit einem Riesen Freundschaft schließen können, dann sollten wir einen Zwerg nicht fürchten, oder?«
»Dalin ist ein guter Freund,« erklärte Handan, »ein sehr guter Freund! Und er wird uns helfen.«
Der Bürgermeister nickte nur.
»Passt bitte auch auf meinen Sohn auf«, bat er und verabschiedete sich.
Gegen Abend, die Sonne war schon fast verschwunden und die ersten Sterne glitzerten bereits am großen Himmelszelt, war es endlich soweit. Den Burschen klappte der Unterkiefer herunter als sie die fluoreszierende Lichtgestalt erblickten, die sich langsam der Veranda näherte. Sie trug Dalin auf den Händen und setzte ihn vorsichtig auf dem Schaukelstuhl ab.
»Kasran!«, rief Kalle und freute sich über das Wiedersehen. »Du bist auch gekommen?!«
»Wie Du siehst«, antwortete das Lichtwesen. »Dalin geht es schon etwas besser. Er ist noch schwach und muss sich ausruhen. Aber ich denke, Ihr werdet gut für ihn sorgen.«
Malle, Mallewutz und Balthasar hielten den Atem an, Kreszenz war sprachlos und Lavida strahlte mit einem eigenartigen Glanz in ihren Augen. Nur unser Dralle schien keine Notiz von allem zu nehmen. Öseblöm berührte den traurigen Burschen an der Schulter.
»Es wird alles gut«, sagte er wieder und wandte sich an Dalin.
»Mein lieber Freund«, begann er. »Wir haben lange nach Dir gesucht, kannten weder Deinen Namen, noch wussten wir, wo wir Dich finden konnten. Aber meine Wanderstiefel verlangten nach Dir. Du kennst sie, nicht wahr?«
Der Zwerg lächelte und nickte.
»Oh ja«, antwortete Dalin. »Dix und Dax, wenn ich mich recht erinnere. Euer Wunsch hat mein Leben gerettet. Ich danke Euch dafür. Kasran erzählte mir, dass ich mich hier erholen darf. Ist das wahr?« – »Aber sicher doch!«, rief Balthasar und freute sich über einen weiteren Freund. – Da holte Dalin seine geheimnisvolle Flöte hervor, blickte noch einmal freundlich in die Runde, dann begann er zu spielen … Das Zwergenlied, das schon manch eine Seele berührte. Die Melodie entsprang dem alten Holz, breitete sich aus und flog von Herz zu Herz in den Abend hinaus.
Auf Euch liebe Kinder wartet jetzt das Traumland … Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«