Sprechender Brunnen
»Seid Ihr bereit? Es ist soweit!«
Lasst uns nicht viel Zeit verlieren und gleich mit der nächsten Geschichte beginnen. Ach, halt! Zuvor müsst Ihr aber noch ins Bett. Also bitte wieder gut zudecken, und gemütlich unter der Decke kuscheln. Jetzt schließt Eure Augen und spitzt Eure Ohren, denn Öseblöm erzählt gerade vom verschwundenen Filius …
»Ein seltsames Dorf«, meinte Kalle nachdenklich. »Ohne Filius geht nichts … Was soll das überhaupt heißen? Und wer ist Filius?«
»Das wollte ich auch wissen«, entgegnete Öseblöm und erzählte weiter.
»Darf ich fragen, wer Filius ist?«, fragte ich den Alten, der unbeteiligt den aufgeregten Menschen zuschaute.
»Das darfst Du, Fremder, das darfst Du«, antwortete er, schaute mich kurz an und wandte sich wieder dem aufgeregten Treiben zu.«
»Er hat Dir nicht geantwortet?«, fragte Malle.
»Doch«, meinte Öseblöm und lachte. »Meine Frage hatte er beantwortet. Ich hatte ja gefragt, ob ich fragen darf …«
»Aber das ist doch nur eine höfliche Floskel«, wandte Mallewutz ein.
»Ich weiß«, entgegnete Öseblöm. »Aber dieser Alte war ein seltsamer Kauz. Das war im ganzen Dorf bekannt. Auf jeden Fall sprach er mit mir kein weiteres Wort. In der Siedlung jedoch ging es drunter und drüber. Die Menschen schienen echt besorgt.«
»Plötzlich trat eine junge Frau an mich heran und fragte: »Habt Ihr zufällig meinen Filius gesehen, Fremder?«
»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete ich. »Aber wenn Ihr mir sagt, wer Filius ist und wie er aussieht, dann kann ich Euch vielleicht helfen.«
»Filius ist mein Sohn«, erklärte die junge Frau und sie war wirklich zutiefst beunruhigt. »Er ist seit heute Morgen verschwunden. Ich mache mir solche Sorgen!«
»Wie alt ist denn Ihr Sohn?«, wollte ich wissen.
»Erst gestern hatte er Geburtstag. Vier Jahre, vier Jahre ist er alt.«
»Dann will ich gerne helfen. Ich nehme an, Ihr habt schon überall gesucht?«
»Die junge Mutter schaute mich verzweifelt an.«
»Ja, überall«, sagte sie. »Das ganze Dorf steht still. Alle helfen sie suchen, auch wenn einige nicht wollten. Sie glauben, dass mein Sohn wieder Verschwindibus spielt, aber das stimmt nicht.«
»Verschwindibus?«, fragte ich.
»Ja, er spielt gerne verstecken. Aber diesmal nicht, ich spüre das. Es ist was passiert!«
»Und warum haben dann doch alle geholfen?«, wollte Balthasar wissen.
»Eine gute Frage«, bemerkte Öseblöm. »Der Vater des kleinen Filius war Dorflehrer. Der einzige Lehrer im Ort. Er hat einfach gesagt, dass er die Schule nicht öffnet, wenn sein Filius nicht gefunden wird und sich ebenfalls auf die Suche gemacht. So blieb die Schule geschlossen und die Kinder mussten zuhause bleiben.«
»Tolle Idee!«, riefen Balthasar und Mallewutz wie aus einem Munde.
»Ja, aber das hatte Folgen«, sagte Öseblöm. »Der Gemüsehändler im Ort konnte seinen Laden nicht öffnen, weil er auf seine drei Kinder aufpassen musste. Genauso erging es dem Bäcker. Viele Mütter konnten nicht einkaufen, weil sie ebenfalls auf ihre Kinder aufpassen mussten. So gab es dadurch kein Mittagessen für die meisten der Bewohner. Nach kurzer Zeit stand das Dorfleben still.«
»Und deshalb ging ohne Filius gar nichts!«, stellte Kalle fest. »Das ist ja ein Ding. Ob das bei uns im Dorf auch so ist?«
»Ich schätze, es dürfte sehr ähnlich sein«, antwortete Öseblöm. »Denn in einer Gemeinschaft ist jeder von uns wichtig und hat seinen Platz.«
Dralle nickte nur still vor sich hin. Er hatte verstanden. Kreszenz warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, eine stille Entschuldigung. Dralle lächelte zurück, die beiden Jungs sollten noch echte Freunde werden.
»Und Du hast den kleinen Filius gefunden?«, fragte Balthasar.
Öseblöm schüttelte den Kopf.
»Nein, nein«, sagte er. »Das war die kleine Lisa, ein etwa sechs jähriges Mädchen. Es herrschte wirklich große Aufregung in der Siedlung. Alle liefen kreuz und quer herum und riefen immer wieder nach dem kleinen Filius. Bei dem Lärm übersahen viele das kleine Mädchen, das immer wieder an dem Rockzipfel der jungen Mutter zog. »Ich habe ein Wunder gesehen«, sagte die Kleine immer wieder. Und weil ihr niemand zuhörte, stand sie plötzlich vor mir.«
»Willst Du einmal ein Wunder sehen, Fremder?« fragte sie mich. »Die Kleine war freundlich und schien keinerlei Angst zu haben. Ich beugte mich zu ihr und fragte: »Was für ein Wunder, junge Dame?« – »Unser Brunnen kann sprechen!«, rief sie und ihre Wangen färbten sich ein wenig rot vor Aufregung.« – »Ein sprechender Brunnen?«, wiederholte Mallewutz. »Das habe ich ja noch nie gehört!« – »Ich auch nicht«, sagte Öseblöm. »Aber Ihr wisst ja, ich bin neugierig. Deshalb bat ich die Kleine, mir den Brunnen zu zeigen, denn ein sprechender Brunnen wäre wirklich eine Sensation gewesen …«
Für Euch, liebe Kinder, ist es jetzt aber an der Zeit, ins Traumland zu reisen … Darum heißt es nun:
»Gute Nacht und träumt recht schön, schon morgen wird es weiter gehen.«